«Ich möchte etwas Positives mit meinem Schmerz machen»
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Intimes Buch von Stress:«Ich möchte etwas Positives mit meinem Schmerz machen»

Musiker Stress (45) über seine Jugend voller Gewalt – und wie sie ihn noch heute prägt
«Vielleicht sind Kinder für mich nicht vorgesehen»

Er musste sich seiner Vergangenheit stellen, um weiterzukommen. Der Musiker Stress bringt eine Biografie heraus. Darin geht es um eine zerrüttete Kindheit voller Gewalt, zerbrochene Beziehungen, aber auch um Hoffnung.
Publiziert: 05.11.2022 um 00:04 Uhr
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Aktualisiert: 05.11.2022 um 13:53 Uhr
Alexandra Fitz (Interview) und Thomas Meier (Fotos)

Am Montag erscheint die Biografie «179 Seiten Stress». Wir trafen den Musiker Andres Andrekson (45), bekannt als Stress, in einem Café in seiner Nachbarschaft. Während zwei ältere Damen am Tisch nebenan über das Ausflugsziel Blüemlisalp reden und darüber, wie man am besten Kotelett zubereitet, sprechen wir über seine Jugend voller Gewalt, seine Depression und die wichtigste Frau an seiner Seite. Und zeigen die eindrücklichsten Aussagen aus dem Buch.

Blick: Warum soll man ein Buch über Sie lesen?
Stress:
Ich habe krasse Dinge erlebt und möchte sie erzählen. Wenn du so lange da bist, vergessen die Leute, wer du bist. Du gehörst zum Inventar. Ich treffe Leute, die nicht wissen, dass ich in Estland aufgewachsen bin.

Machen Sie sich Sorgen, wie die Menschen auf das Buch reagieren?
Vielleicht bei meiner Mutter? Ich bin mit Gewalt aufgewachsen. Meine Mutter fühlt sich schlecht, weil sie sich nicht vergeben kann.

«Ich habe krasse Dinge erlebt und möchte sie erzählen», sagt Andres Andrekson (45) alias Stress im Interview über sein Buch.
Foto: Thomas Meier
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«Deine Mom verprügelt dich mit dem Gürtel und realisiert dann, dass du Striemen davongetragen hast. Also sagt sie, dass du nicht am Sportunterricht teilnehmen darfst. Sie sagt, dass du dem Lehrer sagen musst, dass du deine Sportsachen vergessen hast, denn wenn der Lehrer die Striemen sieht, stecken sie dich ins Heim. Also musst du sagen, dass du deine Sportsachen vergessen hast, obwohl du deine verfickten Sportsachen gar nicht vergessen hast, und dafür kriegst du dann Schläge vom Lehrer und neue Striemen und blaue Flecken. Fickt euch alle.»

Sie haben sie dafür gehasst. Heute lieben Sie sie, telefonieren fast täglich. Wie ist das möglich?
Jeder bekommt Karten im Leben. Meine Mutter hatte keine guten. Sie sagte mir: «Bis spät in meinem Leben hat mich niemand umarmt.» Im Kommunismus waren wir Tiere und wurden so behandelt. Aber wenn du nicht mehr in einem Zoo lebst, sondern wie ein Mensch, geht es darum, wie du dich entwickelst. Meine Mutter ist eine wunderbare Frau geworden. Ich kann jeden Tag anrufen, und sie gibt mir immer eine neue Perspektive auf Dinge, die ich selber nicht sehe.

Und Ihr Vater?
Ich habe versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen, aber er hat kein Interesse. Vielleicht ist es ihm zu viel, mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden.

Haben Sie manchmal Angst, etwas von Ihrem Vater zu haben?
Absolut. Ich kenne ihn nicht so gut, wir sind vor ihm geflohen, als ich fünf Jahre alt war. Aber es gibt viele Parallelen. Er ist fast gestorben, als er ein Baby war. Und ich auch.

«Seiner Ex, der Frau vor meiner Mutter, hatte mein Vater den Kiefer gebrochen. Wenn er emotional gestresst war, schlug er zu. Meine Mutter konnte damit umgehen, solange sich die Gewalt nur gegen sie richtete. Aber dann kam ich zur Welt. Ich war eineinhalb Jahre alt, als mich mein Vater fast totschlug.»

Ihre Schwester kommt im Buch kaum vor. Wieso?
Ich wünschte mir, wir hätten eine engere Beziehung. Aber wir haben eine traumatisierte Beziehung. In Estland musste ich mich als älterer Bruder oft um sie kümmern. In der Schweiz wollte ich mein eigenes Leben leben. Ich hatte das erste Mal Platz für mich. Aber ich habe immer ein schlechtes Gewissen. Jedes Jahr nach dem Weihnachtsessen habe ich ein schlechtes Gefühl. Aber ich weiss nicht, wie wir das schaffen sollen? Ich fühle mich machtlos.

«Vor ein paar Tagen erfuhr ich, dass es mit Ronja vorbei ist: Sie hat Schluss gemacht. Es gibt einen anderen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich in dieser Situation befinde. Es ist extrem schmerzhaft. Ich weiss nicht, wie man Dinge beendet. Plötzlich war sie wieder da: die Panik. Noch vor ein paar Tagen war ich erschüttert. Erfüllt von einer riesigen Angst, nie mehr jemanden zu finden, der zu mir passt. Ich bin jetzt Mitte vierzig. Habe ich die Energie, noch einmal etwas Neues aufzubauen? Und dann? Am Ende wieder vor dem Nichts stehen, ausgelaugt und gestresst? Ich hätte gerne Kinder. Welches Zeitfenster bleibt mir?»

Melanie Winiger brachte ein Kind mit in die Beziehung, über Ronja Furrer schreiben Sie: «Ich hätte mir Kinder vorstellen können. Aber das hätte vermutlich ihre Karriere beendet.» Wollen Sie immer noch Vater werden?
Vielleicht sind Kinder für mich nicht vorgesehen. Kinder zu haben ist kein Recht, es ist ein Glück. Ich hasse es, wenn ich etwas erzwingen muss. Aber wenn es kommt, ist es schön.

Gibt es im Moment jemanden an Ihrer Seite?
Ja.

Ist sie bekannt?
Nein. Die Frauen, mit denen ich zusammen war, waren auch im Rampenlicht. So waren auch die Beziehungen in der Öffentlichkeit. Ich probiere jetzt mit meiner neuen Freundin einen anderen Weg.

Sind Sie noch in Therapie?
Nein, ich konnte alle Knoten entflechten. Derzeit lerne ich, mir selbst zu vertrauen. Wenn du so eine Vergangenheit hast wie ich, ist es schwer, sich selbst zu vertrauen.

Sie wuchsen in der Sowjetunion auf, schreiben, dass in Ihrer Heimat Estland die Russen die Bösen waren. Was denken Sie, wenn Sie den Krieg in der Ukraine sehen?
Es geht nicht um die Russen. Es geht um die Leute, die in Russland an der Macht sind. Vor vier Wochen war ich mit meiner Mutter in Estland, sie macht das sehr betroffen. Sie wurde zu Zeiten der Sowjetunion zwei Tage lang vom KGB in einem Keller befragt, sie weiss bis heute nicht, warum. In Russland leben die Leute noch unter dem gleichen Regime wie in der Sowjetunion. Es tut mir leid für das Volk, sie werden gefickt von ihrem eigenen Land.

Sie haben mit dem Buch Ihre Vergangenheit aufgearbeitet. Wie geht es Ihnen heute?
Mir geht es sehr gut. Ich bin an neuen Songs. Ich habe weniger Angst, höre besser auf mich. Viele Leute sagen: «Stress hat einen neuen Frühling.» Wenn du so viele Jahre in der Musikbranche bist, ist das nicht einfach.

Andres Andrekson

Andres Andrekson kam 1977 in der estnischen Hauptstadt Tallinn zur Welt, zur Zeit der Sowjetunion. Er ist fünf Jahre alt, als seine Mutter mit ihm und seiner Schwester den gewalttätigen Vater verlässt. Mit zwölf Jahren zog die Familie in die Westschweiz. Er studierte Wirtschaft, doch seine Leidenschaft gilt der Musik. Er wird unter dem Namen Stress als Rapper bekannt. Von 2008 bis 2012 war er mit Ex-Miss-Schweiz Melanie Winiger (43) verheiratet, von 2012 bis 2021 mit Model Ronja Furrer (30) liiert. Er lebt in der Nähe von Zürich und hat eine Freundin. Nun erscheint seine Biografie «179 Seiten Stress» im Echtzeit Verlag, aufgeschrieben vom Journalisten Daniel Ryser. Was Rapper Stress ihm erzählt, ist, wie er sagt, «krasser als vieles, was ich als Reporter bisher gehört habe».

Thomas Meier

Andres Andrekson kam 1977 in der estnischen Hauptstadt Tallinn zur Welt, zur Zeit der Sowjetunion. Er ist fünf Jahre alt, als seine Mutter mit ihm und seiner Schwester den gewalttätigen Vater verlässt. Mit zwölf Jahren zog die Familie in die Westschweiz. Er studierte Wirtschaft, doch seine Leidenschaft gilt der Musik. Er wird unter dem Namen Stress als Rapper bekannt. Von 2008 bis 2012 war er mit Ex-Miss-Schweiz Melanie Winiger (43) verheiratet, von 2012 bis 2021 mit Model Ronja Furrer (30) liiert. Er lebt in der Nähe von Zürich und hat eine Freundin. Nun erscheint seine Biografie «179 Seiten Stress» im Echtzeit Verlag, aufgeschrieben vom Journalisten Daniel Ryser. Was Rapper Stress ihm erzählt, ist, wie er sagt, «krasser als vieles, was ich als Reporter bisher gehört habe».

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