«Zurücklehnen ist nie gut»
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Schwulenaktivist Ostertag:«Zurücklehnen ist nie gut»

Schwulenrechte-Vorkämpfer Ernst Ostertag wird 94
«Ausruhen bringt nichts»

Der Schweizer Schwulenaktivist Ernst Ostertag wird heute Sonntag 94 Jahre alt – und ist umtriebig wie eh und je. Denn: Auch wenn es heute die Ehe für alle gebe, dürfe man sich noch lange nicht zurücklehnen.
Publiziert: 21.01.2024 um 00:07 Uhr
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Aktualisiert: 22.01.2024 um 14:45 Uhr
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Michel ImhofTeamlead People

Ernst Ostertag wird am Sonntag 94 Jahre alt. 94 Jahre Ernst Ostertag heisst auch: 70 Jahre Kampf für die Rechte homosexueller Menschen. Dieser Aktivismus – und seine Liebesgeschichte – machte ihn international bekannt. Wir blicken zurück.

An seinem 24. Geburtstag, also 1954, erkundigte sich der ausgebildete Pädagoge bei der damaligen Zürcher Schwulen-Untergrundorganisation Der Kreis, ob er die Mitgliederzeitung mitgestalten könne. Er dürfe, hiess es – zumindest sobald er von der Schulpflege offiziell zum Lehrer gewählt worden sei. «Zuvor war die Gefahr zu hoch, den Job zu verlieren», erklärt Ostertag.

Erste schwule Erfahrungen in Grossbritannien

Seine schwule Seite hatte er ein Jahr vorher auszuleben begonnen, als er mit seinem ersten verdienten Geld ins britische Stratford-upon-Avon reiste, dem Geburtsort von William Shakespeare (1564–1616). Dort lernte er Schauspieler kennen, kam zum ersten Mal mit Schwulen in Kontakt und machte seine ersten Erfahrungen mit anderen Männern.

Ernst Ostertag wird 94 Jahre alt. Er blickt auf 70 Jahre Aktivismus für Schwulenrechte zurück.
Foto: Linda Käsbohrer
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Auch in Zürich suchte er nach seiner Rückkehr die Nähe zu Gleichgesinnten. «Als ich 22 Jahre alt war, erzählte mir ein Kollege in der RS unter der Dusche, dass ich mit meinem ‹Luxuskörper› am Pissoir beim Bürkliplatz gutes Geld verdienen könne.» Er sei zwar hingegangen, zum Bürkliplatz, und beobachtete das Geschehen, wollte aber keinen schnellen Sex, wie ihn da alle hatten. «Das lockte mich nicht dahin. Vielmehr war ich am Austausch mit anderen Schwulen interessiert.»

Im Kreis lernte er seine grosse Liebe kennen

Irgendwann lernte er aber dort einen Mann kennen, der ihm unter die Haut ging. Ostertag liess sich auf eine Affäre ein – und entdeckte den «Kreis». «Denn der Typ war Abonnent der Mitgliederzeitung.» Und so landete er auf der Redaktion, lernte die Mitwirkenden kennen, die alle unter Pseudonymen arbeiteten. Bei der Organisation mithelfen durfte er sofort, doch an Veranstaltungen teilnehmen konnte er erst 1956, als er gewählter Lehrer war. Es wurde zu seinem Schicksalsjahr. Bei einem Ball von Der Kreis lernte er nämlich Röbi Rapp (1930–2018) kennen. Die Liebe seines Lebens. Ende 1956 wurden die beiden Männer ein Paar.

Damals ging es in der Schwulenszene vor allem um Zusammenhalt, Austausch und den Kampf gegen Unterdrückung. «An Aktivismus für mehr Rechte war kaum zu denken», erzählt Ostertag. Die Zürcher Polizei nahm ihn 1961 fest, verhörte und erpresste ihn. Die Ordnungshüter führten damals ein Schwulenregister, nahmen willkürlich Fingerabdrücke von Schwulen und erliessen ein Tanzverbot für Homosexuelle. «Ich war so zornig, weil alles so ungerecht war. Ich wusste: Das darf in einer Demokratie nicht geschehen, und ich will kämpfen, bis gleiche Rechte für alle gelten, wie es in unserer Verfassung steht.»

Seine Beziehung behielt er lange für dich

Trotz seines Engagements bei Der Kreis und in späteren Organisationen behandelte Ostertag seine Liebe zu Röbi Rapp im Berufs- und Familienumfeld bis kurz nach seiner Pensionierung äusserst diskret. «Die Gefahr war zu gross, dass mein Privatleben gegen mich ausgespielt werden könnte. Einmal hat irgendwer in der Schulpflege tatsächlich erzählt, man hätte mich nicht gewählt, hätte man gewusst, dass ich schwul bin. Also hab ich es aus Existenzangst verleugnet.»

Ihren ersten grossen öffentlichen Auftritt hatten Rapp und Ostertag 1999 an der ersten Kundgebung für das Partnerschaftsgesetz in Bern. Daran nahm das Paar mit einem Transparent teil. Darauf stand: «Ein Paar seit 43 Jahren, rechtlos ...». Ostertag erinnert sich: «Wir waren ein beliebtes Fotomotiv, alle waren beeindruckt von dieser langen Beziehung. Ich argumentierte, dass man mit den Schwulen sprechen muss, um mehr über sie zu erfahren, anstatt sie auszugrenzen.» Vier Jahre später waren die beiden das erste Paar, das nach dem neuen Zürcher Gesetz die eingetragene Partnerschaft einging.

Film machte seine Geschichte international bekannt

2012 veröffentlichte die Autorin Barbara Bosshard (72) ihre Geschichte im Buch «Verborgene Liebe, die Geschichte von Röbi und Ernst», zwei Jahre später erschien der auf dem Anfang ihrer Liebe basierende Film «Der Kreis», der an der Berlinale unter anderem den Teddy und den Publikumspreis gewann. 2020 setzte sich Ostertag zusammen mit allen Homosexuellen-Organisationen erfolgreich für die Erweiterung der Anti-Rassismus-Strafnorm ein, ein Jahr danach für die Ehe für alle.

Sein Partner Röbi ist am 26. August 2018 im Alter von 88 nach schwerer Krankheit verstorben. «Ich fühle mich als halber Mensch», sagte Ostertag ein Jahr später zu Blick. Alleine war und ist er aber nicht: 2003 trat Giovanni Lanni (heute 50) in das Leben von Ostertag und Rapp. Bis zu Rapps Tod führten die Männer 15 Jahre lang eine intensive, harmonische Beziehung zu dritt.

Angst vor dem Tod hat er keine

Heute lebt Ernst Ostertag in seiner Wohnung im Zürcher Seefeld, die er mit seinem Partner Röbi Rapp 40 Jahre bewohnte. Gesundheitlich sei er «noch guet zwäg». Nur hie und da habe er etwas Probleme mit Arthritis. «Und meine Augen werden schlechter und tränen hin und wieder.»

Für seinen 94. Geburtstag wünscht sich Ostertag noch viele schöne Momente mit Giovanni. Angst vor dem Tod hat der überzeugte Buddhist keine. «Warum auch? Ich weiss, dass jedes Leben endlich ist. Und was nachher kommt, beschäftigt mich nicht. An nichts hängend bin ich frei.» Danach zitiert er frei nach William Shakespeare: «Die ganze Welt ist eine Bühne und wir nur Spieler, wir treten auf und verschwinden und sind nie mehr gesehen.»

Schwule werden immer für die Akzeptanz kämpfen müssen, sagt er

Bis er abtritt, will sich Ostertag weiter für die Rechte der queeren Community einsetzen. «Ausruhen bringt nichts. Homosexuelle werden immer eine Minderheit sein und Gegner haben», sagt er. «Wir müssen aufmerksam sein, damit die Akzeptanz nicht schwindet. Das ist Herausforderung und Chance zugleich.»


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