Star-Autorin Sibylle Berg zur Corona-Krise
«Ich bin ungläubig paralysiert»

Die deutsche Star-Autorin und Wahlzürcherin Sibylle Berg verrät im BLICK-Interview, was die Corona-Krise aus ihr und uns allen macht und welche Lehren wir daraus ziehen sollten.
Publiziert: 18.04.2020 um 19:36 Uhr
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Aktualisiert: 19.12.2020 um 15:00 Uhr
Interview: Patricia Broder

Unsere Welt ist nicht mehr, wie sie einmal war: Grossstädte sind leer gefegt, Schulen alle zu, mehr als 3,9 Milliarden Menschen sitzen zu Hause. Szenen, welche direkt aus einem ihrer Werke stammen könnten, zeigen diese doch meist eine düstere und trostlose Welt.

Die Rede ist von Starautorin Sibylle Berg (57). Von vielen als Hohepriesterin des Zynismus gefeiert. Im BLICK-Interview verrät die preisgekrönte Schriftstellerin, wie sich ihr Alltag durch die Coronavirus-Pandemie verändert hat, wie die kollektive Angst unsere Gesellschaft beeinflusst, warum Solidarität besonders wichtig ist und was die Welt aus dieser Krise lernen muss.

SonntagsBlick: Frau Berg, wie nehmen Sie die aktuelle Krisensituation wahr, was löst sie bei Ihnen aus?
Sibylle Berg: Ich vermute, wie die meisten Bürgerinnen der Schweiz, bin ich ein wenig ungläubig paralysiert. Ich hocke und warte. Ich versuche, nicht zu viel über Corona zu lesen, weil ich weder Virologin noch Politikerin bin. Ich versuche den Menschen, die ich kenne, sehr betagten Italienerinnen, verzweifelten Künstlerinnen zu helfen, und sei es mitunter nur durch Lebenszeichen. Und – natürlich bin ich überrascht, denn alle Szenarien, von denen ich durch meine regelmässigen Gespräche mit Wissenschaftlern wusste, welche Pandemien und Klimakatastrophen betreffen, waren trotz ihrer befremdlichen Realität – irreal. Jetzt hocken wir inmitten einer seltsamen Zeit und können uns plötzlich alles vorstellen.

Star-Autorin Sibylle Berg verrät im BLICK-Interview, was die Corona-Krise aus ihr und uns allen macht ..
Foto: Dominik Butzmann/laif
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Wie hat sich Ihr Alltag in dieser Krise verändert?
Kaum. Ich stehe jeden Tag sehr früh auf und arbeite von 7 bis 18 Uhr. Was wegfällt, sind meine Shows am Schauspielhaus Zürich, die ich mit Knackeboul zusammen veranstaltet habe. Und natürlich der Wegfall aller meiner Premieren. Und dass mein neues Buch «Nerds retten die Welt» in einer Zeit herauskommt, in der alle Buchläden geschlossen sind und Amazon die Auslieferung von Büchern an die letzte Interessensstelle geschoben hat. Aber mit den Umständen bin ich nicht alleine. Und natürlich sind die kleinen Belohnungen im Arbeitsalltag weggefallen: vor dem Globus sitzen, Tee trinken, Menschen ansehen oder mal essen gehen. Das Einzige, was sich verändert hat: Ich koche, in Ermangelung meiner Lieblings-Take-Aways, Rezepte von Pablo Vögtli von Radio-SRF-Virus nach. Und telefoniere mehr als früher.

In Ihrer Kolumne im «Spiegel» schreiben Sie: «Nun haben wir sie fast alle, die Angst.» Welchen Einfluss hat diese kollektive Angst vor einem unbekannten Virus auf unsere Gesellschaft?
Die aktuelle Veränderung kann jeder selber beobachten: Menschen weichen sich aus. Und viele Attitüden fallen weg. Haben Sie schon einmal nachmittags am Paradeplatz gesessen, um sich Leute anzusehen? Angestellte der Finanzwirtschaft vornehmlich, die mit dieser trainierten «Die Welt kann mich mal»-Überlegenheit durch die Gegend federn. Ich habe mir immer vorgestellt. Ein kleines Erdbeben jetzt, und ihr kriecht heulend hinter euren Echsen-Lederkoffern her. Denn am Ende sind wir alle sehr viel ähnlicher, als uns lieb wäre. Die momentane Situation macht viele gleicher, als das kapitalistische System es vorsieht. Alle hocken daheim und sorgen sich, die einen sitzen halt in Villen mit Garten, die anderen mit Kindern in engen Wohnungen, was härter ist. Aber hocken tun wir alle.

Und das verbindet offenbar. Viele zeigen sich in dieser schwierigen Zeit sehr hilfsbereit und gehen etwa für besonders Gefährdete einkaufen.
Ja, und das freut mich. In meinem Umfeld war man schon immer solidarisch. Ich habe das Glück, in einer sehr freundlichen Miethausgemeinschaft zu wohnen. Und ich glaube sehr an grosse Anteile von Mitgefühl bei den Menschen. Das war immer, wie ich die Schweiz erlebt habe. Allein die Solidarität wurde in den letzten Jahren durch eine aggressive rechte Politik ein wenig aufgeweicht.

Manche sagen, dank des fast weltweiten Lockdowns und der damit reduzierten Emissionen könne sich die Erde nun wenigstens erholen. Zynisch oder wahr?
Das sind seltsame Rechnungen. Tote und Kranke jetzt, damit die Erdbevölkerung aufwacht und sich abstrakt vorstellt, dass die Opferzahlen durch die Klimakatastrophe, in der wir uns befinden, weit höher sein werden? Ich glaube, das ist ein sehr westliches Gedankenspiel. Denn zu erwarten ist doch, dass Pandemie und Klimaveränderung wieder einmal die Länder des globalen Südens hart treffen werden. Also alles wie immer – das Elend findet schön weit entfernt statt.

Wo sehen Sie in dieser Krisensituation für unsere Gesellschaft die grösste Gefahr?
Darin, dass diese eben erwähnte Solidarität endet, wenn es ums Überleben geht. Mich erstaunt die Kampagne, die sich durch die Medien zieht und älteren Menschen ihren Verzicht auf Intensivmedizin als heroische Tat für die Gemeinschaft nahelegt. Ich fürchte sehr, dass – wenn der Zustand sich verschärft – viele den Tod von schwächeren Menschen hinnehmen könnten. Davon wird mir fast körperlich schlecht, denn für mich ist jedes Leben gleich viel wert. Ebenfalls gefährlich ist, dass unsere Regierung nun endlich noch mehr Akzeptanz zur Überwachung findet, die wir nach einem eventuellen Krisenende nicht mehr beenden können.

Was muss die Welt aus der Corona-Krise lernen?
Zu viel Privatisierung ist nie sinnvoll, zu viel Neoliberalismus dito. Wir sehen jetzt die Schwachstellen im Gesundheitswesen, wir sehen, wie hilflos ein so reiches Land wie die Schweiz ohne eigene Airline ist, wie hilfreich jetzt ein Grundeinkommen und günstige Kinderbetreuung wären. In manchen Bereichen wie Pflege, Privatisierung, Grundeinkommen wäre es sehr dumm, nicht nachzubessern. Aber zuerst müssen wir nun alle sehen, dass wir die Zeit überstehen und solidarisch bleiben.

Polarisierend und faszinierend

Sibylle Berg wurde als Tochter eines Musikprofessors und einer Bibliothekarin in Weimar (damalige DDR) geboren. Gleich mit ihrem Erstlingswerk «Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot» gelang ihr 1997 der Durchbruch. Das Werk der polarisierenden Autorin umfasst neben unzähligen Essays und Kolumnen 25 Theaterstücke und 15 Romane, die in 34 Sprachen übersetzt wurden. Für ihren aktuellen Roman «GRM – Brainfuck» wurde Berg unter anderem mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. 2020 erhielt die gebürtige Deutsche mit Schweizer Staatsbürgerschaft für ihr Werk den Grand Prix Literatur, die höchste Auszeichnung, welche in der Schweiz für literarisches Schaffen vergeben wird.

Sibylle Berg wurde als Tochter eines Musikprofessors und einer Bibliothekarin in Weimar (damalige DDR) geboren. Gleich mit ihrem Erstlingswerk «Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot» gelang ihr 1997 der Durchbruch. Das Werk der polarisierenden Autorin umfasst neben unzähligen Essays und Kolumnen 25 Theaterstücke und 15 Romane, die in 34 Sprachen übersetzt wurden. Für ihren aktuellen Roman «GRM – Brainfuck» wurde Berg unter anderem mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. 2020 erhielt die gebürtige Deutsche mit Schweizer Staatsbürgerschaft für ihr Werk den Grand Prix Literatur, die höchste Auszeichnung, welche in der Schweiz für literarisches Schaffen vergeben wird.

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