Interview mit alt Bundesrätin Ruth Dreifuss (SP)
«Die AHV-Reform hat Vorteile für die Frauen»

Sie war die letzte Bundesrätin, die eine Reform der Altersvorsorge schaffte. Ruth Dreifuss erklärt, wieso sie die AHV liebt und was das mit Karl Marx zu tun hat.
Publiziert: 03.09.2017 um 11:34 Uhr
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Aktualisiert: 07.10.2018 um 11:35 Uhr
Ruth Dreifuss (77) war 1999 die erste Schweizer Bundespräsidentin.
Foto: Nicolas Righetti
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BLICK: Sie sind 77 und tagein tagaus für die AHV-Abstimmung unterwegs. Eigentlich sind Sie der beste Beweis, dass es das flexible Rentenalter braucht.
Ruth Dreifuss:
Nein, ich bin der beste Beweis, dass es gut ist, im ­Alter gratis zu arbeiten! Schauen Sie mal, wie viele Stunden Rentner für Enkelkinder oder in der Frei­willigenarbeit einsetzen. Die AHV ist eben auch die Möglichkeit, zu dienen. Wobei ich natürlich auch für Flexibilität einstehe.

Ernsthaft: Wieso dieses Engagement?
Ich liebe die AHV, um das zu erklären, muss ich Marx zitieren.

Marx?
Jeder nach seinen Möglichkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Das ist die AHV. Es ist die gelebte ­Losung der Schweiz: Einer für alle, alle für einen.

Was sagt es dann über uns aus, dass Sie 1994 die letzte Bundesrätin waren, die eine AHV-Reform durchbrachte?
Es zeigt, dass wir an Kompromissfähigkeit eingebüsst haben. Das hat mit der Polarisierung der Politik zu tun, wobei man sagen muss, dass sich vor allem die Bürgerlichen ­polarisiert haben.

Das Manko dieser Reform: Die Probleme der AHV werden nicht gelöst, sondern aufgeschoben.
Wer glaubt, man könne die AHV für die nächsten 50 Jahre reformieren, der unterliegt einer Illusion. Mit der wirtschaftlichen und demografischen Entwicklung ist es nur möglich, die nächsten zehn Jahre seriös vorauszusagen. Weshalb sollen wir übers Ziel hinausschiessen und von den Menschen mehr Opfer verlangen als nötig? Es wäre viel wichtiger, dass wir wieder zu regel­mässigen Reformen zurückfinden. Denn die AHV lässt sich eigentlich sehr einfach anpassen.

Versuche zur Reform gab es ja zur Genüge.
Ja, aber wenn ein Vorschlag sich nur auf die Erhöhung des Renten­alters der Frauen konzentriert oder am Umwandlungssatz schraubt ohne Kompensation, dann sagt das Volk Nein. Alain Berset hat sich auf die prioritäre Frage fokussiert: Wie viel Geld haben die Leute zur Verfügung, wenn sie nicht mehr ­arbeiten?

Sie sagen, ein Ja zur AHV-Reform bedeute, die Solidarität gegen den Egoismus zu verteidigen. Wieso sind es die Frauen, die sich nun mit der Erhöhung des Rentenalters solidarisch zeigen müssen?
Die Vorlage verlangt Opfer von verschiedenen Seiten: von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und den Konsumenten über die Mehrwertsteuer. Aber ja, auch von den Frauen. Dafür hat sie auch ganz spezifische Vorteile für Frauen.

Ach ja?
Die AHV ist die Versicherung der kleinen Leute. Ein Viertel der Frauen hat keine berufliche Vorsorge, sondern nur die AHV. Jede Er­höhung ist positiv für die Frauen. Wir sind es, die oft keine lineare Berufsbiografien haben, oft Teilzeit arbeiten. Heute kann man als Teilzeitlerin aus der Vorsorge fallen, die ­Lücken machen sich später stark bemerkbar. Das neue System trägt der Teilzeitarbeit Rechnung.

Diese Reform hat ein grundsätzliches Problem: Bürgerliche ­mögen die AHV nicht. Sie ist ein ­linkes Projekt.
Aber eines, das nur dank bürgerlicher Unterstützung 1948 eingeführt werden konnte. Doch es stimmt: Die Bürgerlichen wollen eine schwache AHV. Sie halten die private Vorsorge für zentral. Das ist aber der falsche Ansatz. Nicht nur aus linker Perspektive, auch für eine Mehrheit der Bevölkerung. Die AHV ist solidarisch, sie bringt mehr Gerechtigkeit in die Gesellschaft.

Und die Pensionskasse?
Die zweite Säule ist das Gegenteil. Sie potenziert die Ungerechtigkeit des Lebens.

Sind Sie eigentlich optimistisch?
Wenn man kämpft, ist man immer optimistisch.

Aber die Umfragen sind schlecht.
Gerade deshalb: Informieren, Überzeugen!

Was würde ein Nein bedeuten?
Es gibt zwei Arten von Gegnern. Eine linke Minderheit, die keine Alternative zur Reform hat. Rechts der CVP hat man sehr wohl eine Alternative. Sie lautet: Erhöhung des Rentenalters, Herabsetzung des Umwandlungssatzes, Erhöhung der Beiträge. Ich machte bei der IV die Erfahrung, dass man ein Sozialwerk aushungern kann, um dann schmerzliche Einsparungen durchzubringen. Das darf der AHV nicht passieren.

Das Bild von Ihnen und Frau Brunner auf dem Bundesplatz nach Ihrer Wahl zur Bundesrätin ist eine Ikone der Schweizer ­Frauenbewegung. Wo steht die Schweiz heute bei der Gleich­stellung?
(Überlegt lange) Für viele Frauen ist es nicht einfacher geworden. Sie müssen noch mehr zwischen Beruf und Familienleben jonglieren. Während der 80er- und 90er-Jahre hat man über die Anpassung der Gesetze versucht, Diskriminierung zu eliminieren. Jetzt merkt man aber, dass es im Alltagsleben nach wie vor grosse Hindernisse gibt.

Die Wahl von Ruth Dreifuss in den Bundesrat 1993 gilt als eine der grössten Überraschungen der Schweizer Politik. Ihr waren landesweite Frauenproteste vorausgegangen, nachdem die offizielle SP-Kandidatin Christiane Brunner von der Bundesversammlung nicht berücksichtigt worden war.
Foto: LUKAS LEHMANN

Ein Schritt vor, zwei zurück?
Nein. Der Fortschritt bei der Gleichstellung zwischen Mann und Frau ist die grösste und friedlichste Revolution des 20. Jahrhunderts. Es ist eine Entwicklung, die kein Ende nimmt.

Aber wir reden bei der Nachfolge von Bundesrat Burkhalter mehr übers Tessin als über Frauen.
Wir haben auch ein seltsames System. Der Bundesrat ist wie ein Puzzle, wenn ein Teilchen rausfällt, muss man eines suchen, das wieder gut reinpasst. Die Wahl ist sehr reduziert. Ich zum Beispiel wurde gewählt, weil ich eine Frau bin und weil sie eine andere Frau nicht wollten. Eines ist allerdings klar: Eine Grosspartei wie die FDP sollte darum besorgt sein, einen Mann und eine Frau im Bundesrat zu haben.

Vor Ihrer Wahl gab es Demonstrationen und Druck aus der Zivilgesellschaft. Heute bleibt es still.
Ja, wir Frauen mussten die Türe zum Bundesratszimmer aufbrechen. Ich hoffe nicht, dass wieder Zeiten kommen, in denen das nötig wird. Wenn wir aber in eine Situation zurückfallen, in der sich Frauen nicht mehr repräsentiert fühlen, dann wird Druck von der Bevölkerung kommen. Ich sehe mit grosser Freude junge Feministinnen, die mit sehr frechen Forderungen neue Wege beschreiten. Politisch ist klar: Das Parlament muss das Gleichgewicht der Geschlechter ebenso in Betracht ziehen wie das Gleichgewicht der Sprachen oder der Kantone.

Wen Sie sich in den Bundesrat wünschen, ist klar.
No comment. Einfach so viel: Der Bundesrat ist keine Kantonsvertretung.

Ich wollte auf etwas anderes ­hinaus: Sie engagieren sich stark für Sans-Papiers, für Menschen, die ohne gültige Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz leben. In dieser Angelegenheit arbei­teten Sie mit dem Genfer Sicherheitsdirektor und Bundesratskandidaten Pierre Maudet ­zusammen. Nun lanciert Genf ­gemeinsam mit dem Bund ein ­Pilotprojekt zur Legalisierung der Papier­losen. Wieso beschäftigt Sie ­dieses Thema?
Bei Sprechstunden habe ich viele papierlose Frauen kennengelernt. Das sind Frauen, die seit Jahrzehnten hier wohnen und für einen mickrigen Lohn arbeiten. Jeden Monat schicken sie Geld in ihre Heimat und leben unter ständiger Angst, entdeckt zu werden.

Was ändert sich für diese Menschen durch das Pilot-Projekt?
Sie haben eine echte Chance, eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten. Das ist eine moralisch richtige und wichtige Entscheidung. So anerkennen wir ihren wichtigen Beitrag, den sie für unsere Gesellschaft leisten. Um zurück auf die Gleichstellung zu kommen: Haushalts­hilfen erlauben vielen Schweizer Frauen, beruflich tätig zu sein. Sie sehen: In der Sozialpolitik hängt ­alles zusammen.

In der Schweiz leben rund 75ß000 Papierlose, also Menschen ohne geltende Aufenthaltsbewilligung, die oft seit Jahrzehnten hier wohnen. Der Kanton Genf hat nun ein Pilotprojekt gestartet, das Sans-Papiers erlaubt, unter klar definierten Kriterien ihren Status zu legalisieren. Ruth Dreifuss hat das Projekt entscheidend mitgestaltet.
Foto: SALVATORE DI NOLFI

Sie haben mal gesagt, das Thema Ausländer sei das einzige, bei dem es für Sie keine Zurückhaltung gebe. Wieso?
Weil es um ethische Grundsätze geht. Ich bin eine zu alte Politikerin, um nicht zu wissen, dass man die maximale Gerechtigkeit zwar suchen muss, sie letztlich aber unerreichbar bleibt. Darum braucht es auch in der Ausländerpolitik Kompromisse, aber nur solche, welche die Würde der Menschen respektiert.

Wieso nimmt die Fremdenfeindlichkeit im Westen zu?
Es gab früher zu viele Tabus bei diesem Thema. Vorurteile und Geringschätzung muss man bekämpfen. Das ist eine Auseinandersetzung mit der dunklen Seite der Gesellschaft. Wenn man aber Ängste tabuisiert, dann kochen sie früher oder später über. Die Frage ist: Wie reagieren wir auf die Ängste? Wenn man sie als normal betrachtet oder ausnützt, dann hat es schlimme Konsequenzen. In Europa gibt es leider Regierungen, die fremdenfeindliche Tendenzen ausnutzen, um an der Macht zu bleiben. Man kann Fremdenhass nur eindämmen, wenn man auf ihn ­reagiert.

Wie sehen Sie Ihre eigene Zukunft?
Meine Zukunft? Ich bin glücklich, dass ich mich wieder stärker als Gewerkschafterin und Soziademokratin engagieren kann. Aber so lange wird das nicht mehr dauern. Mein Körper und mein Geist bauen langsam ab. Ich weiss nicht, wann die Zeit da sein wird. Aber ich weiss, dass sie näher rückt. Und das ist gut so.

Die erste Bundespräsidentin

Ruth Dreifuss (77) war 1999 die erste Schweizer Bundespräsidentin. 1993 bis 2002 stand sie dem Departement des Inneren vor und brachte unter anderem die 10. AHV-Revision beim Volk durch. Vor ihrer Wahl war sie Sekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Entwicklungshelferin und Journalistin. Heute präsidiert sie unter anderem die Global Commission on Drug Policy, ein Gremium ehemaliger Spitzenpolitiker, das sich für eine Neuausrichtung der Drogenpolitik einsetzt. Dreifuss wurde 1940 in St. Gallen geboren. Sie ist jüdischer Herkunft.

Ruth Dreifuss (77) war 1999 die erste Schweizer Bundespräsidentin. 1993 bis 2002 stand sie dem Departement des Inneren vor und brachte unter anderem die 10. AHV-Revision beim Volk durch. Vor ihrer Wahl war sie Sekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Entwicklungshelferin und Journalistin. Heute präsidiert sie unter anderem die Global Commission on Drug Policy, ein Gremium ehemaliger Spitzenpolitiker, das sich für eine Neuausrichtung der Drogenpolitik einsetzt. Dreifuss wurde 1940 in St. Gallen geboren. Sie ist jüdischer Herkunft.

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