Agrarökologe Urs Niggli sagt, warum Fleisch gut fürs Klima ist
«Wir können nicht die ganze Menschheit vegan ernähren»

Der renommierte Wissenschaftler Urs Niggli (68) bereitet den Welternährungsgipfel in New York vor. Er warnt vor einem Food-Kollaps – und zeigt, warum Bio allein nicht die Lösung ist.
Publiziert: 15.08.2021 um 00:48 Uhr
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Aktualisiert: 15.08.2021 um 06:55 Uhr
Interview: Danny Schlumpf

Im September findet der Uno-Welternährungsgipfel in New York statt. Sie sind in der internationalen Wissenschaftsgruppe, die den Gipfel vorbereitet. Welche Rolle spielen Sie?
Urs Niggli: Ich bin der Grüne im Team, mache mich stark für die Agrarökologie – eine Kombination aus Biolandbau und der Anwendung moderner Technologien wie Digitalisierung und neuste Züchtungsmethoden.

Was ist das Ziel der Veranstaltung?
Es wird ein Gipfel mit starkem wissenschaftlichem Fundament. Wir wollen die Fakten zur Welternährung zeigen und Forderungen an die Politik stellen. Dazu gehört vor allem der Aufruf, weniger über Produktionssteigerungen zu diskutieren und dafür das Ernährungssystem ins Zentrum zu stellen.

Im November folgt die Weltklimakonferenz im schottischen Glasgow. Haben die beiden Veranstaltungen etwas miteinander zu tun?
Allerdings. Der Klimawandel führt zu massiven landwirtschaftlichen Ertragseinbrüchen. Das ist umso schlimmer, weil es bereits 2050 rund zehn Milliarden Menschen zu ernähren gilt.

Dann muss man doch über Produktionssteigerungen sprechen?
Nicht auf Kosten der Nachhaltigkeit.

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Klingt nach einem unmöglichen Spagat.
Das ist es nicht, wenn wir auf der gleichen Fläche mehr produzieren – was auch auf ökologischere Weise geht, wenn wir neue Technologien integrieren. Wir haben gar keine andere Wahl, wie der neue Klimabericht zeigt.

Er ist niederschmetternd.
Es ist in der Tat fünf nach zwölf. Für die globale Ernährungssicherheit ist die Begrenzung der Erwär- mung unter 1,5 Grad Celsius ein Muss.

Die Landwirtschaft trägt ihren Teil zur Katastrophe bei: 40 Prozent des Klimawandels geht auf das Konto von Landwirtschaft und Ernährung.
Die Landwirtschaft ist zu intensiv, aber das liegt nicht nur an den Landwirten. Viel einschneidender sind Bevölkerungswachstum und Ernährungsweise. Billige Lebensmittel führen zu Verschwendung und zu hohem Fleischkonsum.

Liegt es nur an den Konsumenten?
Natürlich muss auch die Landwirtschaft zum Abbau der Klimagase beitragen, vor allem durch die Reduktion von Dünger und dem Ausbau von humusfördernden Systemen mit Mischkulturen und minimaler Bodenbearbeitung. Das bindet CO2 zurück in die Böden.

Müssen wir weg von der konventionellen Landwirtschaft?
Definitiv. Wir müssen Pestizide und Dünger massiv reduzieren und das Bodenleben intensivieren. Die beiden Schweizer Agrar-Initiativen waren ein Warnschuss an die Adresse der Agrar-Industrie und der Politik. Sie haben gezeigt, dass die Bevölkerung das Thema sehr ernst nimmt.

Wird der Klimawandel die Schweizer Landwirtschaft stark verändern?
Vermehrte Wetterextreme treffen auch unser Land. Die Vegetation wird sich verändern, was neue Schädlinge und Krankheiten anzieht. Doch die Schweiz hat einen enormen Vorteil: Ihr geht das Wasser nicht aus. Umso grösser ist ihre Verantwortung, nachhaltige Lebensmittel zu produzieren. Wir werden mehr Proteine aus Hülsenfrüchten essen, die Hühner- und Schweinezucht geht zurück.

Wir sind da ja auf gutem Weg: Pro Kopf kauft kein Land mehr bio ein als die Schweiz!
Hierzulande liegt der Bio-Anteil bei den verkauften Lebensmitteln bei elf Prozent. Das ist tatsächlich die Spitzenposition. Doch angesichts des Reichtums unseres Landes ist diese Zahl immer noch irritierend tief. Sie zeigt, wie stark auch wohlhabende Menschen auf den Preis schauen.

17 Prozent der Schweizer Landwirtschaftsfläche sind bio. Wie viel könnten es sein?
Wenn wir Foodwaste und Fleischkonsum halbieren, sind 50 bis 80 Prozent möglich, ohne dass wir mehr importieren müssen. Aber der Klimawandel drückt auf die Erträge, die Bevölkerung wächst. Deshalb braucht es den Einsatz neuer Technologien, die für viele Biobauern noch immer ein Schreckgespenst sind.

2050 werden 75 Prozent der Menschen in Städten leben. Was heisst das für Landwirtschaft und Ernährung?
Für grosse Zentren bedeutet das umwälzende Veränderungen. Sie müssen die Stadtplanung ganz neu denken. Die Landwirtschaft wird in die Städte ziehen, wo sich völlig neue Produktionssysteme entwickeln. Lebensmitteltürme oder grosse Industriehallen entstehen, in denen Früchte und Gemüse hergestellt werden.

Was werden wir in Zukunft essen?
Mehr pflanzliche Proteine aus Kichererbsen zum Beispiel. Und wir werden viel mehr Algen essen. Sie sind in Asien schon lange verbreitet und ein perfekter Rohstoff für neue Lebensmittel, können in Küstengebieten und oder an Hausfassaden gezüchtet werden. Auch Insekten liefern sehr viele Proteine, wenn sie richtig gefüttert werden.

Es gab schon Insektenaktionen der Detailhändler. Aber sie scheinen nicht so recht zu zünden …
Das ist kulturell bedingt. Ich bin sicher, dass wir uns über kurz oder lang daran gewöhnen.

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Und was ist mit den Steaks?
Fleisch muss nicht vom Tisch. Zwei Drittel der globalen Landwirtschaftsfläche sind Dauergrünland. Auf diesem Land wird das Vieh geweidet. Man könnte es zwar aus der Produktion nehmen. Dann wachsen dort Bäume, was wiederum gut für das Klima ist.

Warum tun wir es dann nicht?
Weil wir ohne diese riesigen Flächen nicht genügend Lebensmittel produzieren können. Wir müssten sie in Ackerland umwandeln. Die Folge wäre eine ökologische Grosskatastrophe, denn das würde enorme Mengen CO2 freisetzen und die Biodiversität vollends zerstören.

Fleisch ist also gut fürs Klima?
Unter dieser Perspektive trifft das zu, wenn wir das Dauergrünland mit nachhaltiger Viehwirtschaft nutzen und auf diese Weise Milch und Fleisch produzieren. Das heisst nicht, dass wir noch mehr Fleisch essen sollen, im Gegenteil. Aber wir können auch nicht die ganze Menschheit vegan ernähren. Dafür mangelt es schlicht an genügend Ackerland.

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Persönlich

Urs Niggli gehört zu den führenden Wissenschaftlern auf dem Gebiet des biologischen Landbaus. Von 1990-2020 leitete er das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (Fibl) in Frick AG. Er ist Präsident des von ihm gegründeten Instituts Agroecology.science.

Urs Niggli gehört zu den führenden Wissenschaftlern auf dem Gebiet des biologischen Landbaus. Von 1990-2020 leitete er das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (Fibl) in Frick AG. Er ist Präsident des von ihm gegründeten Instituts Agroecology.science.

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