Alt Bundesrätin Dreifuss über die AHV, Renten und Krankenkassen
So schaffen wir die Reform doch noch!

Alt Bundesrätin Ruth Dreifuss (SP, 76) schaltet sich die Diskussion um die Altersvorsorge ein: Die Pläne der nationalrätlichen Sozialkommission hält sie für «eine reine Provokation». Im BLICK-Interview macht sie sich für eine ausgewogene Reform stark, unterstützt die AHV-Plus-Initiative und fordert Einheitskasse-Versuche in den Kantonen.
Publiziert: 29.08.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 20:52 Uhr
Die ehemalige SP-Bundesrätin Ruth Dreifuss (76) hofft auf eine ausgewogene Altersvorsorge-Reform und unterstützt die AHV-plus-Initiative.
Foto: THOMAS LUETHI / HEG
Interview: Ruedi Studer

Frau Dreifuss, die letzte grosse AHV-Reform gelang 1997 – unter Ihrer Ägide. Macht Sie das stolz oder besorgt?
Ruth Dreifuss: Besorgt! Die zehnte AHV-Revision hätte nicht die letzte erfolgreiche sein dürfen. Ich selber habe noch die elfte AHV-Revision vorbereitet. Ein ausgeglichenes Paket mit Vor- und Nachteilen. Das Frauenrentenalter wäre erhöht worden, dafür hätten die unteren Schichten von einer sozial abgefederten Frühpensionierung profitiert. Das Parlament hat daraus eine reine Abbauvorlage gemacht – und das Volk hat sie 2004 bachab geschickt.

Wiederholt sich diese Geschichte?
Das hängt davon ab, wer sich durchsetzt. Kommt ein ausgeglichenes Paket vors Volk, wie es der Bundesrat und der Ständerat aufgegleist haben, hat es gute Chancen. Setzen sich die einseitigen Vorschläge der Sozialkommission des Nationalrats durch, sind wir wieder am selben Tiefpunkt angelangt.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als die Nationalratskommission ihre Pläne vorlegte?
Dass es an der Zeit ist, dass endlich wieder eine Reform gelingt. Doch stattdessen will die Rechte mit dem Kopf durch die Wand! Das nationalrätliche Projekt ist eine reine Provokation. Das Scheitern in der Volksabstimmung und ein jahrelanges Warten auf die nächste Reform sind damit programmiert.

Der Vater der AHV war ein FDP-Bundesrat. Wie beurteilen Sie die heutige Rolle der FDP, die die harte Tour fährt?
Ich will keine parteipolitische Analyse machen. Ich stelle aber fest, dass der Freisinn schon bei der elften AHV-­Revision im letzten Moment eine Kehrtwende machte und die Vorlage verschlimmbesserte, indem letztlich nur die Erhöhung des Frauenrentenalters übrig blieb. Dass die FDP aus ihrem Scheitern keine Lehren gezogen hat, bedauere ich sehr. Seit 20 Jahren herrscht Blockade! Das darf doch nicht sein.

Dass es eine Reform braucht, ist also unbestritten?
Eines möchte ich betonen: Katastrophenstimmung und Bankrottwarnungen sind fehl am Platz! Aber natürlich muss die Problematik der längeren Lebenserwartung mit einer vorausschauenden Reform angegangen werden. Eine chirurgische Operation sollte man ja auch rechtzeitig vornehmen und nicht erst dann, wenn der Patient schon geschwächt ist.

Und wie gelingt eine solche Operation?
Für die Leute ist entscheidend, ob sie ihre laufenden Ausgaben begleichen können. Die AHV ist für die Deckung des Existenzbedarfs gedacht. Nur wenn sich die Menschen im Alter keine finanziellen Sorgen machen und ihr Leben nicht auf den Kopf stellen müssen, hat eine Reform eine Chance. Bundesrat Alain Berset hat den richtigen Weg eingeschlagen, indem das Rentenniveau aus AHV und beruflicher Vorsorge unter dem Strich erhalten bleiben soll.

Sie plädieren deshalb für mehr AHV und weniger Geld aus der Pensions­kasse?
Bei der beruflichen Vorsorge habe ich mich schon immer für eine technische Lösung eingesetzt. Das heisst: Der Umwandlungssatz muss an die stei­gende Lebens­erwartung angepasst werden – und deshalb sinken. Im Gegenzug muss aber die AHV gestärkt werden. Einerseits um die tieferen Pensionen zu kompensieren. Andererseits wegen der Frauen, von denen viele nur eine AHV-Rente erhalten. Deshalb befürworte ich auch die AHV-plus-Initiative.

Die kostet über vier Milliarden Franken zusätzlich. Das können wir uns nicht leisten.
Doch, doch. Es gibt verschiedene Finanzierungsvorschläge, die verkraftbar sind. Entscheidend ist für mich: Es liegt im System der AHV, dass sich die Schere zwischen Lohn und Renten langfristig öffnet. Deswegen braucht es von Zeit zu Zeit eine ausserordentliche Erhöhung der Rentenniveaus. Die AHV-plus-Initiative bringt diese Korrektur.

Die Berset-Reform würde dadurch hinfällig.
Ganz und gar nicht. Das Gleichgewicht zwischen den ersten beiden Säulen würde sich ein bisschen in Richtung AHV verschieben. Dafür gewinnt Berset mehr Spielraum bei der beruflichen Vor­sorge.

Sie haben als Bundesrätin nicht nur bei der Alters­vorsorge Akzente gesetzt, sondern auch mit dem 1996 in Kraft getretenen Krankenversicherungsgesetz. Würden Sie dieses wieder so anpacken?
Ich habe das Projekt damals von CVP-Bundesrat Flavio Cotti übernommen. Doch ich hatte schon als Gewerkschafterin für das Krankenkassen-Obligatorium und mehr Solidarität unter den Versicherten gekämpft. Deshalb habe ich das Baby von Cotti mit Freude adoptiert und die Vorlage umgesetzt.

Das Baby feiert nun seinen 20. Geburtstag. Feiern Sie angesichts stetig steigender Prämien noch mit?
Das Gesetz hat viel Posi­tives gebracht. Aber für mich war von Anfang an klar, dass es eine ständige Baustelle sein wird, an welcher gearbeitet werden muss.

Wo würden Sie heute ansetzen?
Ich wünsche mir, dass die wirtschaftliche Kaufkraft der Versicherten besser berücksichtigt wird, zum Beispiel über lohnabhängige Prämien. Zudem könnten Familien entlastet werden, indem Kinder keine Prämien mehr bezahlen müssen. Und schliesslich stellt sich die Frage der Einheitskasse, welche einzelne Kantone nun testen möchten.

Sie befürworten die kantonalen Versuche in der Romandie?
Ja, man sollte diese Möglichkeit schaffen. Einzelne Kantone übernehmen immer wieder als Versuchslabore eine Vorreiterrolle. Läuft es gut, findet sich vielleicht eine Lösung für die ganze Schweiz – so wie wir das bei der Drogenpolitik geschafft haben. Wenn nicht, kann man auch wieder zurückbuchstabieren. Wir müssen die im Gesundheitsbereich vorherrschende Blockade überwinden.

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