Appell aus der Romandie
«Nehmt euch ein Beispiel an Genf!»

Anstatt sich über die Welschen lustig zu machen, sollte man die Stärken der Romandie sehen, findet Pierre Ruetschi, der ehemalige Chefredaktor der «Tribune de Genève».
Publiziert: 18.11.2018 um 17:01 Uhr
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Aktualisiert: 18.11.2018 um 17:02 Uhr
Pierre Ruetschi, der ehemalige Chefredaktor der «Tribune de Genève» verteidigt die Romands.
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Ein Gastbeitrag von Pierre Ruetschi

In Genf herrschen Wut und Konsternation über die Spesenexzesse der Stadtregierung, denn es geht um unser Geld. In der restlichen Schweiz jedoch – gebt es ruhig zu – wird gekichert. Genf sorgt mal wieder für Emotionen, das hat man gern. Endlich mal wieder Nachrichten aus der Romandie, die über den Röstigraben hinaus auf Inter
esse stossen.

Bei meinen Deutschschweizer Kollegen stelle ich einen gewissen Enthusiasmus fest, über das Thema zu berichten. Das grosse Spiel der interkantonalen Vergleiche kann beginnen – und das Resultat ist so niederschmetternd wie erwartet. Westschweizer Stadtregenten kleiden sich in Samt und Seide, während ihre Deutschschweizer Amtsgenossen in Sack und Asche gehen. Unverschämtheit!


Das alles kommt gerade recht und bestätigt beliebte Vorurteile gegen die Romands. Diese Woche beschrieb der ehemalige SonntagsBlick-Chefredaktor Peter Rothenbühler, ein Deutschschweizer, der gerne in unserem Namen spricht und sich als frankofoner Spezialist versteht, die Affäre als typisches Beispiel des Westschweizer «Provinzialismus». Die Beweisführung des Kollegen spricht für sich: Robidog-Säckchen und Bio-Restaurants wurden in der Deutschschweiz erfunden und finden erst jetzt 
ihren Weg in die Romandie. Mit Transparenz und Ethik steht es ähnlich. Ich lade den Experten hiermit gerne zu einem Kennenlernbesuch in Genf ein.

Stärke und Produktivität der Romandie

Doch Spass beiseite: Geben wir uns nicht den Vorurteilen hin. Die Genfer und erst recht die Romands sind nicht so leichtfertig, sorglos, gleichgültig oder zurückgeblieben, wie man glauben möchte. Man sagt ihnen nach, sie hielten sich ohne jede Scham an der Mutterbrust des Staates schadlos. Wie aber erklärt man sich dann die Tatsache, dass Genf nach Zug und Zürich die grössten Beiträge an den eidgenössischen Staatshaushalt liefern? Genau, liebe Deutschschweizer Cousins und Cousinen: Während der grosse Kanton Bern, um nur ein Beispiel zu erwähnen, 
1,1 Milliarden Franken aus der gemeinsamen Kasse pumpt, liefert Genf jedes Jahr 300 Millionen ab. Wir geben wohl auch etwas aus, aber wir sind reich – und grosszügig gegenüber unseren Nachbarn in der Deutschschweiz.


Ein weiteres Beispiel für die Stärke und Produktivität der Romandie: Wissen Sie, welche Region die wirtschaftlich dynamischste ist? Eben: die unsere. Für 2016 zeigen die letzten vom Bundesamt für Statistik publizierten Zahlen im Genfersee-
gebiet ein BIP-Wachstum von 
3,9 Prozent – verglichen mit kargen 0,9 Prozent im Mittelland und minus 0,2 Prozent in der 
Region Zürich.
Tolle Zahlen, aber – zugegeben – weniger aufsehenerregend als hohe Spesenabrechnungen.


Nun gut, ich möchte die qualitativ hochstehenden Deutschschweizer Eigenschaften und Praktiken nicht in Zweifel ziehen. Doch auch wenn sich die interne Kontrolle in der Stadt Genf als völlig ungenügend erwiesen hat, hat unser Rechnungshof ganze Arbeit geleistet und die Entgleisungen an den Tag gebracht. Eine sehr nützliche unabhängige Institution mit weitreichenden Untersuchungsbefugnissen, die das Funktionieren unserer Unternehmen überwacht. Nur in zwei Kantonen der Schweiz gibt es einen Rechnungshof: in der Waadt und in Genf. Sind wir nun fortschrittlich oder zurückgeblieben? Ich weiss es nicht mehr. Vielleicht handelt es sich dabei nur um ein weiteres Beispiel des typischen Westschweizer «Provinzialismus».

* Gastbeitrag aus der Feder von Pierre Ruetschi, dem früheren Chefredaktor der «Tribune de Genève»

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