«Auf lange Sicht sind flexible Arbeitszeiten gesünder»
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Mira Zawrzykraj (38):«Auf lange Sicht sind flexible Arbeitszeiten gesünder»

Arbeitnehmerinnen wie Susanne De Zordi und Mira Zawrzykraj kritisieren Gewerkschaften
Arbeiten, aber freier

Die Pandemie hat das Berufsleben verändert: Wo und wann wir arbeiten, ist plötzlich nicht mehr in Stein gemeisselt – ausser im Arbeitsgesetz. Die Gewerkschaften wehren sich gegen mehr Flexibilität.
Publiziert: 30.04.2022 um 11:12 Uhr
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Aktualisiert: 30.04.2022 um 20:08 Uhr
Sermîn Faki (Text), Siggi Bucher und Philippe Rossier (Fotos)

Freitagmorgen, 9 Uhr, auf der Chinawiese am Zürichsee. Mira Zawrzykraj (38) lässt die Frisbeescheibe fliegen, ihr Hund Yuki fängt und apportiert sie. Später wird Zawrzykraj, Mitglied der Geschäftsleitung in der Agentur PRfact, Yuki in den Hundechindsgi bringen und ins Büro gehen. Später, als viele andere beginnen. Und vielleicht hört die PR-Fachfrau auch früher auf, weil sie einen Match hat. Zawrzykraj spielt Volleyball in der vierten Liga. «Wenn ein Match um 18 Uhr beginnt, muss ich manchmal um 16 Uhr los, um pünktlich zu sein.»

Dafür wird Zawrzykraj am Wochenende ein, zwei Stunden arbeiten. Sonntags natürlich nicht – denn Sonntagsarbeit ist ihr verboten. Ebenso wie eine Unterbrechung der täglichen Ruhezeit von elf Stunden, die zwischen zwei Arbeitstagen liegen muss, und die Überschreitung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit.

Arbeitsgesetz trifft auf Realität

Das Arbeitsgesetz, das all das regelt, ist 100 Jahre alt und war auf den Schutz der Arbeitnehmer in der Industrie ausgerichtet. Für die heutige Dienstleistungsgesellschaft sind die Regeln «widersinnig», findet Zawrzykraj. Sie hinderten sie daran, so zu arbeiten, wie sie will. «Gerade im Winter würde ich lieber unter der Woche mal früher aufhören oder unterbrechen, damit ich bei Tageslicht an die frische Luft komme – und dafür spätabends oder sonntags noch mal den Laptop aufklappen.»

PR-Beraterin Mira Zawrzykraj mit ihrem Hund Yuki auf der Chinawiese in Zürich. Sie will sich ihre Arbeitszeit selbst aussuchen.
Foto: Siggi Bucher
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Ähnliche Probleme kennt auch Susanne De Zordi (48). Sie ist Partnerin und Geschäftsleitungsmitglied in einer mittelgrossen Unternehmungsberatungsgesellschaft – und vierfache Mutter, Mentorin für Studierende und Stellensuchende sowie Verwaltungsrätin mehrerer Unternehmen. Das braucht gute Organisation.

Politischer Anlauf vor sechs Jahren

Die Branche, in der De Zordi tätig ist, leidet unter den strengen Regeln des Arbeitsgesetzes. Insbesondere von Dezember bis Mai, wenn die Geschäftsabschlüsse der Kunden anstehen, fällt viel Arbeit an. Überstunden sind dann die Regel, die elf Stunden Ruhezeit können nicht immer eingehalten werden.

Zumindest beschränken sie die Entscheidungsfreiheit: Ein Wirtschaftsprüfer, der bei einem Kunden im Ausland ist, würde vielleicht lieber vier Tage lang zwölf Stunden arbeiten und dafür einen Tag früher nach Hause zu seiner Familie fahren. Er darf aber nicht.

Sechs Jahre ist es her, dass der damalige CVP-Ständerat Konrad Graber (63) das ändern wollte. Er forderte eine Lockerung des Arbeitsgesetzes, später wurde diese auf sogenannte Wissensberufe eingeschränkt – IT-Spezialisten, Wirtschaftsprüfer, Kommunikationsbranche, Anwälte. Menschen, die sich ihre Arbeitszeit autonomer einteilen können als Verkäuferinnen, Lokführer oder Pflegefachfrauen.

Gewerkschaften warnen vor «verheerenden Folgen»

Bis heute aber liegt keine Lösung auf dem Tisch, obwohl Bund und Sozialpartner seit Jahren miteinander über eine Anpassung der Verordnung verhandeln. Bislang ohne Erfolg. Insbesondere die Ruhezeiten und die Sonntagsarbeit erweisen sich als Knacknüsse.

Die Lösung scheitert am Widerstand der Gewerkschaften, die eine «radikale Aushöhlung» des Arbeitsschutzes befürchten und vor «verheerenden Folgen für die psychische Gesundheit» warnen: Burn-outs, Selbstausbeutung und Verkümmerung von sozialen Kontakten. Sie malen den Teufel an die Wand. Werde dem Anliegen jetzt stattgegeben, folge bald der nächste Angriff, «bis möglichst viele Arbeitnehmende auch am Sonntag und in der Nacht nach Belieben des Unternehmens eingesetzt werden können».

Lieber am Wochenende schnell Mails schicken

Zawrzykraj widerspricht vehement. Das heutige starre Korsett des Arbeitsgesetzes tue ihrer Gesundheit nicht gut: «Wenn ich montags wichtige Termine habe, würde ich besser schlafen, wenn ich mich sonntags noch mal kurz vorbereiten könnte.» Stattdessen werde sie durchs Arbeitsgesetz gezwungen, alle Termine und Arbeiten in die je 8,5 Stunden von Montag bis Freitag zu legen.

«Ich bin stressfreier, wenn ich meine Mails während der Ferien oder am Wochenende checken kann, dann kann ich optimal organisieren», sagt auch De Zordi. Von ihren Mitarbeitern verlange sie das hingegen nicht. Mails, die sie nachts schreibt, werden erst am Morgen verschickt. «Ich will keine ‹Immer schneller, immer höher, immer besser›-Kultur fördern.»

Nicht mehr arbeiten, sondern anders

Flexibilität bedeute nicht mehr, sondern besser verteilte Arbeit. «Arbeiten bis zum Umfallen» – diese Angst sei unbegründet, sagt De Zordi. Als ihre Kinder kleiner waren, arbeitete sie 80 Prozent. Die Familienbetreuung haben sie und ihr Mann gleichberechtigt gestaltet und gelebt. «Damals galt das als exotisch und wurde mit Argusaugen angeschaut», erinnert sie sich.

Das sei heute anders. Mehr noch: Immer mehr junge Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter würden Teilzeit arbeiten wollen. Und das sehr flexibel. Begehrt sei etwa ein 90-Prozent-Pensum, aufgeteilt auf vier Tage. Und dafür dann eben längere Ferien. Beispielsweise um die Kinderbetreuung während der Schulferien sicherzustellen, die länger dauern als die fünf Wochen Ferien, die man als Angestellter in der Regel hat.

Gerade für Familien wichtig

Eine gute Entwicklung, findet De Zordi. Und doch immer noch nicht genug. «Wir haben zu wenige Familien, bei denen beide Elternteile beruflich am Ball bleiben können», sagt sie. Viele Frauen – und zunehmend auch Männer – könnten ihr berufliches Potenzial wegen der fehlenden Flexibilität nicht voll ausschöpfen. «Es wäre für die Schweiz enorm wichtig, in diesen Punkten von anderen Ländern zu lernen und aufzuholen.»

Familie sei zudem nicht der einzige Grund, weswegen es mehr Flexibilität brauche. Manch einer wolle länger in die Ferien. Andere bräuchten eine freiere Zeiteinteilung, um kranke und hilfsbedürftige Eltern zu betreuen – dieser Trend werde in den kommenden Jahren noch zunehmen, ist De Zordi überzeugt.

Gewerkschaften drohen mit Referendum

Bis im Sommer geben die ständerätlichen Wirtschaftspolitiker den Sozialpartnern nun noch Zeit. Dann wollen sie selbst das Heft in die Hand nehmen und das Gesetz ändern. Wobei die Gewerkschaften bereits mit dem Referendum drohen.

Es sei höchste Zeit für eine Lockerung, sagt Zawrzykraj. Gerade durch die Pandemie hätten sich die Leute daran gewöhnt, ihre Arbeit flexibler zu erledigen – und würden nun nicht einsehen, dass sie sich wieder starreren Regeln unterwerfen sollen. «Von mir aus sollen meine Mitarbeitenden am Vormittag zum Tennis oder am Nachmittag in den Tanzkurs gehen», sagt sie. «Solange sie ihre Arbeit termingerecht abgeben und für Kunden in der regulären Zeit erreichbar sind, ist mir egal, wann sie sie erledigen.»

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