Aus Misstrauen gegenüber Staat
3000 Schweizer Kinder gehen nicht zur Schule

Die Anzahl Kinder, die im Kanton Bern zu Hause unterrichtet werden, hat sich versechsfacht. Der Kanton gilt als besonders liberal. Andernorts ist Homeschooling gar verboten.
Publiziert: 12.08.2022 um 00:55 Uhr
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Aktualisiert: 17.08.2022 um 17:24 Uhr
Sophie Reinhardt

Für viele Kinder gilt es ab Montag wieder ernst. Die Sommerferien sind vielerorts vorbei. Doch immer mehr Schülerinnen und Schüler gehen nicht zur Schule – sondern werden zu Hause von ihren Eltern unterrichtet. In den letzten Jahren erlebte Homeschooling in der Schweiz einen Boom. Besonders dort, wo Heimunterricht unkompliziert bewilligt wird.

Jeder Kanton stellt selbst die Regeln auf. Als sehr liberal gelten Aargau und Bern. Dort müssen die Eltern nicht über eine pädagogische Ausbildung verfügen, um ihre Kinder selbst zu unterrichten. Viele andere Kantone schreiben eine solche Ausbildung vor.

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Bern ist Homeschooling-Hochburg

Die Zunahme von privatem Heimunterricht ist ein Indiz für ein wachsendes Unbehagen mancher Eltern gegenüber dem staatlichen Schulbetrieb. Die Zahl der zu Hause beschulten Kinder ist im Kanton Bern von 166 im Schuljahr 2012/13 auf über 934 angestiegen. In keinem anderen Kanton werden mehr Kinder und Jugendliche zu Hause unterrichtet.

Homeschooling liegt im Trend.
Foto: Thomas Meier
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Der markanteste Anstieg erfolgte mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie im Jahr 2019. Gründe für den Anstieg seien «oft individuelle Lebenskonzepte von Familien, die zum Entscheid für den Privatunterricht führen», heisst es bei der bernischen Bildungsdirektion. Eine Masterarbeit an der Pädagogische Hochschule Nordwestschweiz nannte 2018 die «Frommen» und die «Alternativen» als wichtigste Elterngruppen, die ihre Kinder zumindest zeitweise dem staatlichen Schulsystem entziehen.

3000 Kinder im Homeschooling

Auch im Aargau, Luzern oder Zürich werden heute deutlich mehr Kinder privat beschult als noch vor ein paar Jahren. Etwa 3'000 Kinder sind in letztes Schuljahr zu Hause unterrichtet worden, schätzt die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren. Genaue Daten fehlen.

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Das bernische Bildungsamt reagierte kürzlich auf den Boom und stellte kurzfristig zwei zusätzliche Mitarbeiter an. Diese kümmern sich nun um die Bewilligungen von Homeschooling, weil die Anzahl Gesuche einigen Schulinspektoren über den Kopf wuchs.

Wer im Kanton Bern sein Kind selbst schulen will, braucht eine ausgebildete Lehrerin oder einen Lehrer, die ihn anleitet. Dieser Pädagoge muss zwingend mit dem Lehrplan 21 vertraut sein. Zudem müssen die Familien dem Schulinspektorat einen Plan vorlegen, was unterrichtet wird. «Das Ziel ist, dass die Kinder jederzeit wieder in die Volksschule integriert werden können», sagt der bernische Amtsvorsteher Erwin Sommer.

Zug ist restriktiv

Deutlich strenger ist man im Kanton Zug. «Der Umgang mit Homeschooling ist politisch gewollt sehr restriktiv», teilt Lukas Fürrer, Generalsekretär der Bildungsdirektion mit. Keine Familie hat dort eine Bewilligung für Homeschooling fürs neue Schuljahr. Auch letztes Jahr nicht.

Eine Privatschulung zu Hause in der Familie sei mit «besonderen Risiken verbunden», heisst es im entsprechenden Papier des Kantons Zug. Bewilligungen werden nur in begründeten Ausnahmefällen erteilt.

Im Tessin gar verboten

«Kinder sammeln durch den Besuch einer öffentlichen oder privaten Schule auch ausserhalb von familiären und verwandtschaftlichen Bindungen für die soziale Entwicklung wichtige Erfahrungen», heisst es beim Kanton weiter. Homeschooling könne dazu führen, dass die Kinder «isoliert werden, wodurch die Erziehung zur Gemeinschaftsfähigkeit gefährdet» sei. Eltern müssten bei Homeschooling gewähren, dass die Kinder und Jugendlichen «weder psychologisch noch religiös abhängig gemacht werden».

Im Tessin ist Hausunterricht gar nicht erst erlaubt. «Die Schule ist nicht nur ein Ort des Lernens, sondern auch ein Ort der Beziehungen, der Geselligkeit, der Interaktion und der Konfrontation. Es ist schwer vorstellbar, dass der Verzicht auf diese Elemente keine Auswirkungen auf die psychosoziale Entwicklung des Schülers und seine spätere Eingliederung in die nachobligatorische Bildung haben würde», heisst es dort.

Motion verlangte Harmonisierung

Diese sehr unterschiedlichen Regeln führen dazu, dass es auch zum sogenannten Homeschooling-Tourismus kommt. Familien ziehen explizit in Kantone, die den Heimunterricht liberal bewilligen. Auch darum gab es wieder Versuche, die Regeln zu vereinheitlichen. Das forderte etwa der damalige SP-Nationalrat Adrian Wüthrich (42) vor drei Jahren. Der Bundesrat sah dies jedoch als unnötig an.

Auch im Kanton Aargau scheiterte letzten Sommer die SP mit einem solchen Anliegen. Sie wollte durchsetzen, dass ein Elternteil, welcher die Kinder unterrichtet, eine pädagogische Ausbildung vorweisen muss. Das Anliegen fand keine Mehrheit.

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