Darum steigen Pflegende aus
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Geld ist nicht der Hauptgrund:Darum steigen Pflegende aus

Blick misst einer Branche den Puls
Patient Pflege

Die Pflegenden haben die Nase voll von miesen Arbeitsbedingungen und chronischem Personalmangel. Doch wie steht es überhaupt um die Pflege in der Schweiz? Blick zeigt die Übersicht.
Publiziert: 01.11.2021 um 00:58 Uhr
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Aktualisiert: 01.11.2021 um 08:19 Uhr
Gianna Blum und Sermîn Faki

Es sieht nach einem Kantersieg aus: Wenn die Schweizerinnen und Schweizer am 28. November an die Urnen gehen, werden sie bei der Pflege-Initiative ein dickes Kreuz beim Ja machen. Gemäss Umfragen darf das Volksbegehren auf viel Zuspruch hoffen. Und am Samstag haben 5000 Angehörige des Gesundheitspersonals nochmals mit Nachdruck für ein Ja zur Initiative und bessere Arbeitsbedingungen demonstriert.

Darum geht es bei der Pflege-Initiative

Genügend diplomiertes Personal und bessere Arbeitsbedingungen: Das verlangt die Pflege-Initiative, die am 28. November zur Abstimmung kommt. So brauche es etwa Massnahmen, um zu verhindern, dass Pflegende frühzeitig aus dem Beruf aussteigen, beispielsweise eine maximale Anzahl Patienten pro Pflegekraft.

Bundesrat und Parlament lehnen die Initiative ab, legen ihr aber einen indirekten Gegenvorschlag vor. Dieser sieht eine Ausbildungsoffensive vor, bei der Bund und Kantone insgesamt knapp unter einer Milliarde Franken über acht Jahre investieren sollen. Zudem sollen Pflegende neu gewisse Leistungen selbst abrechnen können. Für Massnahmen im Arbeitsalltag seien aber Sozialpartner und Kantone zuständig.

Genügend diplomiertes Personal und bessere Arbeitsbedingungen: Das verlangt die Pflege-Initiative, die am 28. November zur Abstimmung kommt. So brauche es etwa Massnahmen, um zu verhindern, dass Pflegende frühzeitig aus dem Beruf aussteigen, beispielsweise eine maximale Anzahl Patienten pro Pflegekraft.

Bundesrat und Parlament lehnen die Initiative ab, legen ihr aber einen indirekten Gegenvorschlag vor. Dieser sieht eine Ausbildungsoffensive vor, bei der Bund und Kantone insgesamt knapp unter einer Milliarde Franken über acht Jahre investieren sollen. Zudem sollen Pflegende neu gewisse Leistungen selbst abrechnen können. Für Massnahmen im Arbeitsalltag seien aber Sozialpartner und Kantone zuständig.

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Nicht erst die Corona-Krise hat vielen im Land gezeigt, dass da eine Berufsgruppe ist, ohne die es nicht geht und die sich zu wenig unterstützt fühlt. Doch stimmt das wirklich? Wie steht es um die Pflege in der Schweiz tatsächlich? Wie gut sind die Löhne, wie streng die Jobs? Blick misst der Branche den Puls.

Sie sind zahlreich – und doch zu wenige

Insgesamt arbeiteten 2019 etwa 185'600 Menschen im Bereich Pflege und Betreuung – mehr, als in der Landwirtschaft tätig sind. Rund die Hälfte der Pflegerinnen und Pfleger arbeitet in Spitälern und Kliniken, etwas mehr als ein Drittel in Alters- und Pflegeheimen und die restlichen 17 Prozent in den Spitex-Diensten.

Weiblich, 39 Jahre alt, und in Teilzeit tätig: Das ist die durchschnittliche Spitalpflegerin.
Foto: Keystone
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Es sind nicht genug. Im September waren 5761 Stellen offen, laut «SonntagsZeitung» so viele wie noch nie. Sie zu besetzen, ist schwierig. Die meisten Betriebe haben Mühe, qualifiziertes Personal zu finden, viele greifen auf Personalvermittlungen zurück. Je höher die Spezialisierung, desto schwieriger ist es, Fachkräfte zu finden. Zu diesem Schluss kommt ein Bericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan).

Es prognostiziert: Der Mangel wird zunehmen. Denn die Bevölkerung wird älter und sie wächst. Bis ins Jahr 2050 wird sich die Zahl der über 80-Jährigen aller Voraussicht nach auf über eine Million verdoppeln. Eine Million Seniorinnen und Senioren, von denen ein grosser Teil Betreuung brauchen wird. Allein für Alters- und Pflegeheime geht das Obsan von einem Bedarf an 35'000 zusätzlichen Stellen im Jahr 2035 aus.

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Sie sind hoch qualifiziert

«Die Pflege ist ein komplexerer Beruf, als viele Leute denken», sagt Katharina Fierz, Leiterin des Pflegeinstituts an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Sie nennt ein Beispiel: «Bettlägerige Patienten entwickeln schnell Druckgeschwüre, die sehr gefährlich werden können.» Um die Hautveränderung als Hinweis darauf zu erkennen, brauche es eine spezifische Ausbildung: «Gute Pflege bemerkt man erst, wenn sie fehlt», sagt Fierz.

Pflege – ein akademischer Beruf

Die landläufige Vorstellung, dass der Pfleger im Spital oder die Spitex-Mitarbeiterin einfach eine Lehre gemacht hat, stimmt so nicht mehr. In den letzten Jahren wurden die Berufe akademisiert, dies aus verschiedenen Gründen.

Erstens wurden mit dem wissenschaftlichen Fortschritt die technischen Aspekte der Pflege wichtiger, die Anforderungen an das Wissen der Pflegenden sind gestiegen.

Zweitens hat der zunehmende Ärztemangel dazu geführt, dass Pflegende Therapieentscheide übernehmen.

Drittens geht es auch darum, den Pflegeberuf attraktiver zu machen – indem den Pflegenden mehr Kompetenzen übertragen werden. Für all das braucht es eine entsprechende Ausbildung.

Bis zu sieben Jahre Ausbildung

Zwar erfolgt, besonders in der Deutschschweiz, der Einstieg immer noch häufig über eine Berufslehre zur Assistentin Gesundheit (2 Jahre) oder Fachperson Gesundheit oder Betreuung (3 Jahre). Doch knapp die Hälfte der Absolventinnen und Absolventen entscheidet sich im Anschluss für eine nächsthöhere Ausbildung.

Auf Tertiärstufe, also mit einem Studium an einer Höheren Fachschule oder einer Fachhochschule, kommen noch mal zwei bis drei Jahre Ausbildung dazu. Und wer dann noch eine Spezialisierung (zum Beispiel für die Intensiv- oder Notfallpflege) machen will, muss nochmals zwei Jahre berufsbegleitend dranhängen.

Insgesamt sind das sieben Jahre Ausbildung. Bildet sich eine Pflegeassistentin nach ihren zwei Jahren Lehre bis zur Intensivpflegerin weiter, kann sie mit den fünf Jahren Weiterbildung ihren Lohn bei einem 100-Prozent-Pensum durchschnittlich um 2600 Franken erhöhen. Sermîn Faki

Die landläufige Vorstellung, dass der Pfleger im Spital oder die Spitex-Mitarbeiterin einfach eine Lehre gemacht hat, stimmt so nicht mehr. In den letzten Jahren wurden die Berufe akademisiert, dies aus verschiedenen Gründen.

Erstens wurden mit dem wissenschaftlichen Fortschritt die technischen Aspekte der Pflege wichtiger, die Anforderungen an das Wissen der Pflegenden sind gestiegen.

Zweitens hat der zunehmende Ärztemangel dazu geführt, dass Pflegende Therapieentscheide übernehmen.

Drittens geht es auch darum, den Pflegeberuf attraktiver zu machen – indem den Pflegenden mehr Kompetenzen übertragen werden. Für all das braucht es eine entsprechende Ausbildung.

Bis zu sieben Jahre Ausbildung

Zwar erfolgt, besonders in der Deutschschweiz, der Einstieg immer noch häufig über eine Berufslehre zur Assistentin Gesundheit (2 Jahre) oder Fachperson Gesundheit oder Betreuung (3 Jahre). Doch knapp die Hälfte der Absolventinnen und Absolventen entscheidet sich im Anschluss für eine nächsthöhere Ausbildung.

Auf Tertiärstufe, also mit einem Studium an einer Höheren Fachschule oder einer Fachhochschule, kommen noch mal zwei bis drei Jahre Ausbildung dazu. Und wer dann noch eine Spezialisierung (zum Beispiel für die Intensiv- oder Notfallpflege) machen will, muss nochmals zwei Jahre berufsbegleitend dranhängen.

Insgesamt sind das sieben Jahre Ausbildung. Bildet sich eine Pflegeassistentin nach ihren zwei Jahren Lehre bis zur Intensivpflegerin weiter, kann sie mit den fünf Jahren Weiterbildung ihren Lohn bei einem 100-Prozent-Pensum durchschnittlich um 2600 Franken erhöhen. Sermîn Faki

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Zum Glück für uns alle sind Pflegende meist gut qualifiziert: 49 Prozent verfügen über einen Abschluss auf Tertiärstufe. Sie haben also an einer Fachhochschule oder höheren Fachschule studiert. 32 Prozent haben eine Berufsausbildung absolviert. Nur 19 Prozent haben keine formelle Ausbildung auf diesem Beruf.

Studienabschlüsse sind vor allem im Spital gefragt: Derzeit sind dort etwa 70 Prozent der Pflegenden «Diplomierte», bei der Spitex 42 Prozent und in Altersheimen knapp ein Drittel. Das Obsan geht davon aus, dass bis 2029 43'400 neue «Diplomierte» nötig sind.

Sie sind weiblich ...

Pflege ist immer noch ein Frauenberuf. Im Spital sind 84 Prozent der Pflegenden weiblich, in den Heimen sind es gar 87 Prozent. Wahrscheinlich hängt damit auch das Teilzeitphänomen zusammen: Eine Pflegefachfrau arbeitet in einem Spital durchschnittlich im 70-Prozent-Pensum. Ist sie in einem Alters- oder Pflegeheim angestellt, arbeitet sie mit 73 Prozent ein bisschen mehr, bei der Spitex mit 60 Prozent etwas weniger.

... und kommen aus dem Ausland

Die Hochqualifizierten sind gefragte Fachkräfte, die man oft aus dem Ausland holt. «Die Schweiz ist in der Luxussituation, dass sie aus gleichsprachigen Nachbarländern rekrutieren kann», sagt Michael Simon, Professor für Pflegewissenschaft an der Uni Basel. Schweizweit hat ein Drittel der Pflegenden das Diplom im Ausland gemacht. Am stärksten ist die Romandie von den Nachbarn abhängig, dort stammt sogar jedes zweite Diplom aus dem Ausland.

Ob die Schweiz auch langfristig ihre Personallücke so stark mit ausländischem Personal füllen kann, ist für Simon alles andere als sicher. Fachpersonal sei europaweit knapp. «Der europäische Konkurrenzkampf wird sicher noch härter werden.»

Sie sind unterbezahlt ...

Auf den ersten Blick sieht es bei den Löhnen nicht schlecht aus: 7400 Franken für eine Vollzeitstelle als diplomierte Pflegefachfrau – so hoch ist der Medianlohn. Das heisst, die Hälfte der Pflegenden verdient weniger, die andere Hälfte mehr.

Doch schaut man sich andere Branchen an, zeigt es sich, dass es so viel nicht ist. Mancher KV-Abgänger verdient nach der Lehre schnell mehr als eine Frau, die seit 20 Jahren als Pflegerin in einem Altersheim arbeitet. In der Branche der Finanzdienstleistungen liegt der Medianlohn bei 9200 Franken. Im Detailhandel allerdings nur bei 4800, hier sind aber kaum Studienabschlüsse nötig.

«Im Verhältnis dazu, dass eine mehrjährige Ausbildung auf Tertiärstufe nötig ist und der Beruf viel Verantwortung und persönliche Flexibilität verlangt, sind die Löhne zu tief», sagt Pflegewissenschaftler Simon.

... und überfordert

Kein Wunder also, steigen viele Pflegekräfte wieder aus. Etwa 40 Prozent schmeissen den Bettel hin, ob mit oder ohne Diplom. «Die Austrittsraten sind seit Jahren relativ hoch», sagt der Pflege-Professor. Und die Gründe sind nicht einmal beim Geld zu suchen. Gemäss Simon sind es vielmehr die hohe Arbeitsbelastung, Schichtarbeit und chronischer Druck wegen des ständigen Personalmangels.

Probleme, wie sie auch in Umfragen der Gewerkschaft Unia auftauchen. Und die arbeitsrechtlich relevant sein könnten: 58 Prozent müssen die Hälfte ihrer Dienste im sogenannt geteilten Modus leisten: die Hälfte der Schicht am frühen Morgen, die andere am Abend. 50 Prozent der Befragten gaben an, dass die gesetzliche Ruhezeit von elf Stunden zwischen zwei Schichten mehrmals im Monat nicht eingehalten werden kann. Selbst wer nur 80 Prozent arbeitet, hat nur selten mal zwei Tage am Stück frei. Und muss selbst dann erreichbar und auf Abruf sein.

Das alles schlägt auf die Gesundheit. Rücken- und Gelenkschmerzen, Schlafprobleme und selbst Angstzustände sind nicht selten in diesem Beruf. In der Unia-Umfrage gab jede Dritte an, schon einmal mehr als einen Monat lang berufsbedingt krankgeschrieben gewesen zu sein.

Dass Pflege krank macht, kann sich unsere alternde Gesellschaft eigentlich nicht leisten. Verbesserungen in den Arbeitsbedingungen sind nötig. Ob diese durch die Initiative oder den Gegenvorschlag geschehen werden, zeigt sich bei der Abstimmung am 28. November.

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