Corona zeigte Grenzen des veralteten Beschaffungssystems brutal auf
Tollhaus Armeeapotheke

Die Armeeapotheke musste für Hunderte Millionen Franken Schutzmaterial beschaffen und war zu Beginn der Corona-Pandemie heillos überfordert. Mittlerweile hat sie den Rank zwar gefunden. Doch die Armee räumt Fehler ein.
Publiziert: 05.02.2021 um 01:09 Uhr
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Aktualisiert: 22.04.2021 um 08:36 Uhr
Ruedi Studer

Als das Coronavirus im Frühjahr von China aus die Welt erobert, herrscht im Fernen Osten auch ein bisschen Wilder Westen. Im Wettkampf um Schutzausrüstung – Masken, Handschuhe, Schutzkleidung – wird mit harten Bandagen gekämpft. Beschaffungen sind schwierig, da die Verfügbarkeit von Masken in der Schweiz und in Europa sehr begrenzt ist.

Davon kann auch die Armee ein Liedchen singen: Die Armeeapotheke muss ab März innert kurzer Zeit Schutzausrüstung beschaffen. Eine heikle Mission – die nicht immer erfolgreich erfüllt werden konnte. Mal bewahrte das Aussendepartement die Armee vor einem millionenteuren Maskendebakel. Mal machte die Armee einzelne Anbieter über Nacht zu Multimillionären. Mal wollte die Armee ungenügende Masken nach Afrika verkaufen.

Verteidigungsministerin Viola Amherd (58) zieht nun die Reissleine. Sie hat die interne Revision des VBS mit der Aufarbeitung der Schutzgüter-Beschaffung beauftragt – bis im Frühjahr sollen die Resultate vorliegen.

Beschaffungskoordinator Markus Näf spricht in seinen Statusberichten wiederholt von Problemen in der Armeeapotheke.
Foto: Keystone
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Kleine Meuterei in Armeeapotheke

Nicht ohne Grund: Zumindest zu Beginn der Pandemie geht es in der Armeeapotheke drunter und drüber. Das zeigen zwölf «Statusberichte» von April bis Juni 2020 von Beschaffungskoordinator Markus Näf (53), die BLICK vorliegen.

Die Armeeapotheke ist anfangs heillos überfordert. In normalen Zeiten kauft sie jährlich gerade mal Material für rund 8 Millionen Franken ein – etwa für die Ausrüstung der Sanitätstruppen. Doch in der Corona-Pandemie muss sie gleich mehrere Gänge hochschalten: Der erste Beschaffungskredit für Schutzmaterial wie Masken, Handschuhe, OP-Kittel, Desinfektionsmittel, Beatmungsgeräte oder Arzneimittel beträgt gleich 350 Millionen, wenig später kommt ein zweiter über 2,1 Milliarden Franken hinzu.

Näf startet Ende März als Krisenmanager – und hat erst mal ein Problem mit den Corona-Regeln: In der Armeeapotheke wird mit internem und externem Personal aufgestockt und Milizformationen verstärkt – rasch gehen zu viele Leute ein und aus. Die Social-Distancing-Vorschriften würden nicht eingehalten, warnt er in seinem ersten Bericht zuhanden von Verteidigungsministerin Amherd und Armeechef Thomas Süssli (54).

Und er sieht sich mit einer kleinen Meuterei konfrontiert: «Zudem weigern sich Mitarbeitende unter den unzulässigen Bedingungen zu arbeiten und begeben sich ins Homeoffice.» Darunter auch ein Teil der Geschäftsleitung, wie die Geschäftsprüfungskommission des Parlaments in ihrem Jahresbericht ergänzt.

Krisenmanager Näf schlägt daher eine Raumentlastung vor. So werden etwa weitere Lagerräume angemietet. Damit kann er den Betrieb zwar «stabilisieren», wie er später schreibt, doch die Belastung des Personals sei «nach wie vor zu hoch».

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Saubere Dokumentation fehlt

Als grösstes Problem entpuppt sich in den nächsten Wochen aber die Warenbewirtschaftung. Nicht nur, dass die Beschaffung der benötigten Güter schwierig ist und die Armeeapotheke dabei auch finanzielle Risiken – etwa mit Vorauszahlungen in Millionenhöhe – eingehen muss. Wenn die Ware einmal da ist, bleiben eine saubere Dokumentation und Prozessverarbeitung ein ständiger Knackpunkt. «Es besteht in der Armeeapotheke ein grundsätzliches Problem, dass die Auftragsabwicklung systematisch ungenügend unterstützt und dokumentiert werden kann», so Näf Anfang Mai.

Einmal mehr zeigt sich die IT-Problematik beim Bund: Durch die Verwendung unterschiedlicher Systeme erfolgten jeweils nur Teilabbildungen im SAP-Software-System. «Es fehlt eine durchgehende Auftragsabwicklung mit der zugrunde liegenden Dokumentation der Prozessschritte von der Offertanfrage über die Verträge, Firmenprüfung, Produkteprüfung, Lieferung, Transport, Lagerung, Auslieferung etc.» Diese Dokumentationen seien bisher in manueller Form in den jeweiligen Organisationseinheiten «auf Papier geführt und abgelegt».

Näf beklagt «Fehler im Reporting»

Das führt auch zu Unstimmigkeiten beim Controlling. Näf beklagt «Fehler im Reporting (Bestand, Anlieferung, Lieferant) durch mangelhafte Verbuchungen und die mangelhafte Trennung der Prozesse ‹Beschaffung› und ‹Auslieferung›.» Ein andermal hält er fest, dass 12 Millionen OP-Masken «nicht eingebucht werden können, da keine Bestellung im SAP vorhanden ist».

Es bestehe «keine einheitliche Auftragssteuerung, bei der alle Informationen und auch alle Dokumente für eine Produktebeschaffung zusammenlaufen», ortet Näf eine «grosse Schwäche». Eine Übersicht und klare Verantwortlichkeiten fehlten. «Bei Lieferungen werden Terminverzögerungen oder Qualitätsmängel nicht erkannt», so Näf. Das müsse sich rasch ändern.

Finanzkontrolle spricht von «Ungereimtheiten»

Solche Befunde ziehen sich wie ein roter Faden durch die Berichte. Die Armee nehme «Risiken in Kauf» warnt die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK). «In unseren Systemen besteht momentan keine verlässliche Möglichkeit, Lagerbewegungen, Wareneingänge oder Lieferungen etc. nachzuvollziehen», schreibt die EFK. Die Prüfer sprechen von «Fehlerpotenzial» und «Ungereimtheiten».

Für die EFK ist klar, dass der ganze Prozess über das SAP-System laufen muss. Auch im Juni bemängelt sie erneut Lücken und kommt zum Fazit: «Bei den Beschaffungen der Armeeapotheke bleibt die Warenbewirtschaftung der Knackpunkt.»

Chef der Armeeapotheke abgesetzt

Im ganzen Durcheinander kommt es zum Knall: Mitte Mai wird die Armeeapotheke der Logistikbasis der Armee (LBA) unterstellt, der langjährige Chef abgesetzt und zum Chefapotheker degradiert. Immerhin werden nun zusätzlich 30 Spezialisten der LBA eingesetzt, die beim «Nachpflegen der Daten in den SAP-Systemen» mithelfen – was «noch einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte».

In seinem letzten Bericht kommt Näf zum Schluss, gewisse Probleme seien behoben, und die Befüllung des Lagerorts basiere nun endlich auf strukturierten Aufgaben und Abläufen. Auch die EFK gelangt zum Zwischenfazit, die Armeeapotheke sei dank der logistischen Unterstützung der LBA «auf dem richtigen Weg».

Armee räumt Fehler ein

Gegenüber BLICK räumt die Armee die Probleme und auch Fehler ein. Mit dem Beschaffungsauftrag «wurden die Logistik und insbesondere Lagerkapazitäten der Armeeapotheke überfordert», sagt Armeesprecher Stefan Hofer. Man habe kurzfristig Lagerraum anmieten müssen, wobei die Warenbewegungen in diesen Lagern aber nicht über das SAP-System der Armeeapotheke habe abgewickelt werden können. «Dies ergab anfänglich Probleme, welche später aber behoben werden konnten.»

Mittlerweile hat die Armee den Rank aber gefunden. Im Herbst 2020 seien alle Bestände der Lager des externen Logistikdienstleisters in das SAP-System der Armeeapotheke überführt worden. Und: Per Anfang Jahr wurde das «veraltete SAP-System der Armeeapotheke in das zeitgemässe SAP-System der LBA überführt». Die Logistikprozesse seien harmonisiert und die Strukturen angepasst worden, die verbleibenden Probleme im Bereich Prozessverarbeitung seien in Aufarbeitung. «Aktuell ist eine Totalinventur sämtlicher Artikel der Armeeapotheke am Laufen», so Hofer. Nach aktuellem Stand habe es keine finanziellen Verluste gegeben.

Hofer nimmt die Armeeapotheke aber auch in Schutz. Diese habe «quasi über Nacht» den Auftrag erhalten, raschmöglichst für das gesamte Gesundheitswesen der Schweiz die notwendigen medizinischen Güter zu beschaffen und zu bewirtschaften. «Die Armeeapotheke beschaffte in den darauffolgenden acht Wochen auf einem weltweit ausgetrockneten Markt das 150-Fache des üblichen Volumens. Ihre Logistikleistungen stiegen um das Achtfache», illustriert Hofer die Dimensionen.

«Wochenlange Extrembelastung»

«Weder die Ablauf- noch die Aufbauorganisation der Armeeapotheke waren diesen Dimensionen gewachsen», räumt er ein und spricht von «teilweise chaotischen Überlastungszuständen». Und: «Einige Kader, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hielten dieser wochenlangen Extrembelastung gesundheitlich nicht Stand.»

Trotzdem habe die Armeeapotheke mit «unglaublichem Einsatzwillen und viel Improvisation» all ihre kurzfristig erhaltenen Aufträge erfüllt, betont Hofer. Sie habe auf den Weltmärkten innert kurzer Zeit enorme Mengen an Schutzmaterial beschafft, um eine Unterversorgung in der Schweiz zu verhindern.

«Während der chaotischen Krisenlage mit extremen Belastungen sind mit Sicherheit Fehler passiert», macht Hofer klar. «Die Armeeapotheke ist aktuell daran, die Beschaffungen systematisch zu analysieren und aufzuarbeiten. Dazu wird die Armeeapotheke noch mehrere Monate benötigen.»

«Die Schrottmasken waren ein kalkuliertes Risiko»
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Politik-Reporter analysiert:«Die Schrottmasken waren ein kalkuliertes Risiko»
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