«Wir sind der Schweiz sehr dankbar»
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Ukrainischer Botschafter:«Wir sind der Schweiz sehr dankbar»

Der ukrainische Botschafter Artem Rybchenko zur Lugano-Konferenz
«Es wird nachverfolgbar sein, was mit dem Geld geschieht»

In zwei Wochen trifft sich die Welt im Tessin, um über den Wiederaufbau der Ukraine zu diskutieren. Der ukrainische Botschafter Artem Rybchenko sagt im Interview, weshalb die Konferenz für sein Land so wichtig ist. Und wie die Schweiz der Ukraine sonst noch helfen kann.
Publiziert: 25.06.2022 um 00:10 Uhr
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Aktualisiert: 07.06.2023 um 17:45 Uhr
Artem Rybchenko steckt derzeit mitten in den Vorbereitungen für die Wiederaufbau-Konferenz in Lugano.
Foto: Nathalie Taiana
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Lea Hartmann, Laura Montani und Ruedi Studer

Seit Kriegsbeginn steht der ukrainische Botschafter in der Schweiz, Artem Rybchenko (39), im Dauerstress. Derzeit steckt er mitten in den Vorbereitungsarbeiten für die Ukraine-Wiederaufbau-Konferenz vom 4. und 5. Juli in Lugano TI. Im Vorfeld empfängt er Blick in der ukrainischen Botschaft in Bern.

Blick: Herr Rybchenko, in der Ukraine tobt noch immer der Krieg, während im Tessin bereits über den Wiederaufbau des Landes diskutiert werden soll. Kommt diese Konferenz nicht zu früh?
Artem Rybchenko: Wir können mit dem Wiederaufbau nicht warten, bis der Krieg vorbei ist! Die Menschen wollen nach Hause zurückkehren, viele haben das bereits getan. Aber um heimzukehren, müssen Häuser und die wichtigsten Infrastrukturen wie Krankenhäuser, Verwaltungsgebäude und Läden wieder stehen.

Wird Lugano zum Startpunkt für einen Marshall-Plan für die Ukraine?
Es wird der Lugano-Plan sein! Die Konferenz ist für uns etwas ganz Besonderes, weil die Ukraine im Zentrum steht. Es geht aber nicht nur um die Ukraine, sondern um die europäische Familie, Demokratie und Menschenrechte. Dafür kämpfen wir seit 2014.

Erwarten Sie, dass bereits Geld für den Wiederaufbau zugesagt wird? Wie viel braucht es?
Es ist schwierig, einen Betrag zu nennen, da der Krieg noch nicht zu Ende ist. Zahlreiche Städte sind zerstört worden, es werden Milliarden sein, die wir benötigen. Im Moment geht es aber noch nicht ums Geld. Das Hauptziel der Wiederaufbau-Konferenz ist, zusammenzusitzen und sich darauf zu verständigen, wie wir weiter vorgehen. Es braucht eine Roadmap für den Wiederaufbau. Und wir müssen genau festlegen, wo genau die gesammelten Hilfsgelder hingehen. Dafür braucht es Transparenz, auch vonseiten der Hilfsorganisationen.

Fehlt diese Transparenz denn?
Von verschiedenen Organisationen wird derzeit viel Geld gesammelt. Die Glückskette beispielsweise hat schon 125 Millionen Franken gesammelt. Doch wir wissen nicht, was mit diesem Geld passiert. Ich bitte die Glückskette, mit uns zu kooperieren. Das ist meine direkte Nachricht an sie. Mein Aufruf: Wenn man der Ukraine helfen will, geben Sie das Geld direkt an die Wiederaufbauprojekte! Und geben Sie es jetzt, nicht erst in ein, zwei Jahren, weil wir es jetzt brauchen. Wir müssen unser Land heute wieder aufbauen.

Es stellt sich die Frage, ob das Geld wirklich am richtigen Ort ankommt. Korruption ist in der Ukraine doch ein grosses Problem.
Wenn man sein Land brennen sieht, kann ich mir nicht vorstellen, dass sich jemand persönlich bereichert. Gleichzeitig gibt es eine Lösung, und ich möchte betonen: Unsere Spenden-Plattform «United24» setzt auf volle Transparenz. Es wird genau nachverfolgbar sein, was mit dem Geld geschieht.

Viele hoffen, dass auch Präsident Wolodimir Selenski bei der Wiederaufbau-Konferenz vor Ort sein wird. Kommt er nach Lugano?
Das ist ehrlich gesagt nicht realistisch. Er ist derzeit schliesslich der wichtigste Ukrainer. Vor wenigen Tagen reiste er in den Süden des Landes, in dem die Situation sehr kritisch ist. Das war eines von ganz wenigen Malen, in denen er seit Kriegsbeginn sein Hauptquartier in Kiew verliess. Er wird aber sicher per Videoschaltung an der Konferenz teilnehmen.

Selenskis Mann in Bern

Artem Rybchenko (39) stammt aus Kiew und ist seit vier Jahren ukrainischer Botschafter in der Schweiz. Er studierte internationale Beziehungen und internationales Recht. Für das ukrainische Aussenministerium war er in verschiedenen Funktionen tätig und vor seinem Umzug nach Bern als Berater der Botschaft in Wien stationiert. Rybchenko ist verheiratet und hat zwei Töchter.

Artem Rybchenko (39) stammt aus Kiew und ist seit vier Jahren ukrainischer Botschafter in der Schweiz. Er studierte internationale Beziehungen und internationales Recht. Für das ukrainische Aussenministerium war er in verschiedenen Funktionen tätig und vor seinem Umzug nach Bern als Berater der Botschaft in Wien stationiert. Rybchenko ist verheiratet und hat zwei Töchter.

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Der russische Angriffskrieg begann vor vier Monaten. Wie haben Sie den Kriegsbeginn persönlich erlebt?
Etwa um 4 Uhr morgens habe ich einen Anruf aus Kiew erhalten, dass der Krieg begonnen hat. Ich hatte zwei Minuten, um zu duschen, drei Minuten, um die wichtigsten Dinge zupacken. Dann kam ich in die Botschaft und habe diese eine Woche nicht verlassen. Ich habe rund um die Uhr für die Regierung, für mein Land, für meine Leute gearbeitet.

War es schwer für Sie, so weit weg von der Ukraine zu sein – weit weg von Ihren Verwandten?
Es ist schwer auszuhalten, dass Familie und Freunde dort sind. Dass einige von ihnen an vorderster Front kämpfen – und auch gestorben sind. Es ist ein Dilemma. Jeder tut das Beste für sein Land, und ich kann hier das Beste tun. Wir müssen den Verhandlungsprozess am Laufen halten, unterstützen unsere Landsleute in der Schweiz oder organisieren humanitäre Hilfe.

Konnten Sie zwischendurch auch in die Ukraine zurückkehren?
Seit Beginn des Kriegs war ich zweimal in Kiew, das letzte Mal vor drei Wochen. Und ich habe einen riesigen Unterschied seit meinem letzten Besuch im März gesehen. Man sieht immer mehr Menschen auf den Strassen. Cafés, Restaurants und andere Infrastrukturen werden wieder eröffnet. Etwas ist aber anders: Man sieht keine Kinder mehr auf der Strasse, weil die Eltern sie in Sicherheit wissen wollen.

Es gibt Forderungen, dass die Ukraine gewisse Territorien an Russland abtreten soll, um den Krieg zu beenden. Was halten Sie davon?
Wir sind seit 2014 im Krieg. Für uns steht fest: Die Ukraine muss vereint bleiben. Wir werden nichts von unserem Territorium abgeben. Die Motivation unserer mutigen Bevölkerung war wahrscheinlich noch nie so hoch wie jetzt. Unsere Nation ist so vereint wie nie zuvor. Schon so viele Menschen sind dem Krieg zum Opfer gefallen. Wie könnten wir da sagen: Nehmt einen Teil und geht in Frieden? Das ist nicht möglich. Wir werden nicht aufgeben!

Als einzige Lösung sehen Sie, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt?
Ja!

Dafür brauchen Sie aber mehr Waffen. Muss die Schweiz ihre Position überdenken und zumindest die Weitergabe von Waffen ermöglichen?
Wir respektieren die Gesetze jedes Landes, die lassen sich nicht einfach innerhalb eines Tages ändern. Und wir respektieren natürlich auch die Neutralität. Die Schweiz hat beispielsweise bei den Sanktionen bereits viel unternommen – das ist ein grossartiges Signal für die Ukraine. Aber ja, es ist noch mehr möglich. Wir bringen unsere Vorschläge ein und befinden uns in einem Verhandlungsprozess mit unseren Partnern beim Bund.

In welchen Bereichen könnte sich die Schweiz aus Ihrer Sicht noch stärker engagieren?
Ein Beispiel ist die Minenräumung. Viele Felder sind vermint, was ein grosses Problem darstellt. Wenn wir diese nicht nutzen können, können wir weniger Sonnenblumenöl, Mais oder Weizen exportieren – und die Preise steigen auch in Europa. In den Städten wurden Minen aber auch in Kinderspielzeugen oder Musikinstrumenten versteckt. Es ist ein Chaos. Hier kann die Schweiz helfen.

Die Schweiz ist bekannt für ihre Guten Dienste. Welche Rolle kann die Schweiz bei allfälligen Friedensverhandlungen spielen?
Die Schweiz hat grosse Erfahrung als Vermittlerin und kann auch jetzt eine wichtige Rolle spielen. Sie hält die Tür für einen Verhandlungsprozess offen. Wir verstehen deshalb auch, dass die Schweiz ein gewisses Gleichgewicht gegenüber den Parteien einhalten muss, wenn sie Vermittlerin sein will.

Dann diskutieren Sie bereits mit dem Aussendepartement über eine mögliche Vermittlerrolle?
Ja, wir befinden uns derzeit in Verhandlungen über die Guten Dienste. Mehr kann ich nicht dazu sagen.

Ist auch die russische Seite involviert?
Ich weiss nur, dass die ukrainische Seite involviert ist.

Als Botschafter stehen Sie auch in Kontakt mit den ukrainischen Schutzsuchenden in der Schweiz. Mit welchen Problemen haben sie zu kämpfen?
Die Ukrainer, die vorübergehend sich im Ausland befinden, brauchen unsere Unterstützung bei der Integration. Was wohl für alle gilt: Sie stehen unter grossem Stress. Es handelt sich vor allem um Frauen und Kinder. Sie mussten ihr Zuhause verlassen und ihre Ehemänner, Väter und Söhne zurücklassen. Viele kennen die Sprache und Kultur nicht, sind sogar zum ersten Mal im Ausland. Wenn ich einen Anruf mit einer ukrainischen Nummer erhalte, weiss ich nie, welche Geschichte mich am anderen Ende erwartet. Zum Glück haben aber viele Menschen hier ihre Türen für Ukrainer geöffnet und sie aufgenommen. Wir spüren die Solidarität und sind sehr dankbar dafür.

Kehren auch schon wieder Ukrainer in die Ukraine zurück?
Ja – und das ist ein Zeichen der Hoffnung! Derzeit kehren etwa gleich viele Leute in die Ukraine zurück, wie diese verlassen. Die Menschen wollen so schnell wie möglich nach Hause zurückkehren. Auch deshalb ist die Wiederaufbau-Konferenz so wichtig.

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