Der Westen schlägt Alarm
Steht Putin vor einem Angriff auf die Nato?

Es drohe Krieg in Europa, warnt der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius. Und nicht nur er. Woher kommt der plötzliche Alarmismus? Experten ordnen ein.
Publiziert: 21.01.2024 um 20:00 Uhr
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Aktualisiert: 21.01.2024 um 21:30 Uhr
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Daniel BallmerRedaktor Politik

Boris Pistorius (63) lässt sämtliche Alarmglocken schrillen. Der deutsche Verteidigungsminister warnt vor einer Ausweitung des Ukraine-Kriegs. Schon bald könnte der Kreml die Nato-Ostflanke ins Visier nehmen, zeichnet ein Dokument aus seinem Ministerium düstere Bilder.

Besonders gefährdet wären gemäss dem Geheimpapier die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Bereits während der US-Wahl im November könnte der russische Präsident Wladimir Putin (71) seine Truppen in Nato-Staaten einmarschieren lassen.

Auch der schwedische Zivilverteidigungsminister Carl-Oskar Bohlin (38) warnt: «Es könnte Krieg in Schweden geben.» Genauso wie der Raketen- und Nuklearforscher Fabian Hoffmann von der Universität Oslo: «Wir sind einem Krieg mit Russland viel näher, als die meisten Menschen glauben.»

Foto: IMAGO/SNA
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Experten glauben nicht an unmittelbaren Angriff

Ist das alles nur Alarmismus, um die erlahmende Unterstützung für die Ukraine wieder neu anzukurbeln? Oder müssen wir uns tatsächlich vor einem baldigen Angriff Russlands gegen Nato-Länder fürchten?

«Ich sehe derzeit kein plausibles Szenario, wonach ein unmittelbarer Angriff Russlands auf Nato-Gebiet bevorsteht», sagt Marcel Berni (35), Militärstratege an der ETH Zürich. Personal, Material und Munition seien im anhaltenden Stellungskrieg in der Ukraine gebunden.

Das sieht Russland-Experte Ulrich Schmid (58) von der Uni St. Gallen genauso. Zwar starte der Kreml über verborgene Aktionen immer wieder Versuche, neue politische Fronten zu öffnen und so Europa zu destabilisieren. Ein militärischer Angriff aber stehe kaum bevor.

Nicht einmal im neuen Staatssekretariat für Sicherheitspolitik scheint man an einen unmittelbaren Angriff zu glauben. Russland sei aber grundsätzlich eine Bedrohung für die Sicherheit Europas. «Mit seinen Drohungen zielt es regelmässig auf die Politik und öffentliche Meinung in verschiedenen Ländern Europas», sagt ein Sprecher.

Warum dann die Panikmache von Pistorius & Co.?

Weckruf gegen die «europäische Kriegsmüdigkeit»

«Es geht wohl darum, den Nato-Partnern die Dringlichkeit einer Unterstützung der Ukraine in Erinnerung zu rufen», schätzt Schmid. Vielerorts sei die Dynamik erlahmt. So habe etwa Polen als einer der treusten Verbündeten der Ukraine angekündigt, keine Waffen mehr zu liefern, weil man erst die eigene Verteidigungsbereitschaft sichern wolle.

Auch Berni spricht von «Weckrufen gegen die europäische Kriegsmüdigkeit». Dabei gehe es auch um eigene Rüstungsbemühungen. Schliesslich könnten sich die USA bald verstärkt Asien zuwenden und von den Europäern grössere Verteidigungsanstrengungen einfordern. Letztlich gehe es um die westliche Glaubwürdigkeit und damit auch um die europäische Sicherheit.

Nach früheren Fehlprognosen vorsichtiger geworden

Entwarnung wollen die Experten denn auch nicht geben. Die Bedrohung durch Russland bleibt real. Vor einer direkten militärischen Konfrontation mit der Nato aber dürfte Putin wegen des Verteidigungsbündnisses vorerst weiterhin zurückschrecken, glaubt Berni.

Es gebe einen stillschweigenden Konsens, ergänzt Schmid: Die Nato vermeide es, direkte Kriegspartei zu werden, und respektiere die Atomfähigkeit Russlands. Der Kreml wiederum respektiere den Bündnisfall der Nato und führe Provokationen nur unterhalb der Kriegsschwelle durch, etwa mit punktuellen Luft- und Seeraumverletzungen.

Kommt hinzu: Die westlichen Staaten seien vorsichtiger geworden. Warnhinweise würden ernster genommen, so Schmid. Offensichtlich habe man aus früheren Fehlprognosen gelernt, nachdem man vor knapp zwei Jahren vom Einmarsch Russlands in die Ukraine überrascht worden war.

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