Die Bevölkerung von Leissigen BE fühlt sich auf dem Abstellgeleis
Züge halten am Bahnhof – aber die Türen bleiben zu!

Die Leissiger Bevölkerung stehen seit vier Jahren vor verschlossenen Türen: Der Zug hält, aber niemand darf einsteigen. Die Dörfler kämpfen dagegen – allen voran Beat Steuri.
Publiziert: 25.03.2024 um 01:36 Uhr
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Aktualisiert: 26.03.2024 um 08:26 Uhr
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Céline ZahnoPraktikantin Politik

Pünktlich um 8.15 Uhr fährt der IC61 ein und hält am Bahnhof Leissigen BE. Die Zugtüren bleiben aber geschlossen. Und das schon seit mehr als drei Jahren.

Beat Steuri (72) steht auf dem Perron und ärgert sich. Als Präsident der Interessengemeinschaft Leissigen Futura kämpft er beharrlich dafür, dass sich die Zugtüren im 1200-Seelen-Dorf am Thunersee wieder öffnen.

Den Bahnhof Leissigen hat der Berner Grossrat 2017 beerdigt. Wortwörtlich: Die Leissiger haben das Ortsschild am Bahnhofhäuschen mit einem schwarzen Tuch überdeckt. «Mit diesem Entscheid sind wir überfahren worden», so Steuri. Über den Kampf gegen die geschlossenen Zugtüren hat auch schon der frühere Leissiger Pfarrer Martin Tschirren (57) gepredigt. Er verglich seine «unbeugsamen Mitbürgerinnen und Mitbürger» mit den Galliern aus Asterix und Obelix.

Leissigen BE: Der Zug hält zum Kreuzen, aber öffnet die Türen nicht. Darüber ärgert sich Beat Steuri, Präsident der Interessengemeinschaft Leissigen Futura.
Foto: Céline Zahno
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Ein Dorf steht im Regen

Statt des Zugs müssen die Dorfbewohner jetzt den Bus nehmen. Schon am Morgen komme es zu absurden Situationen: «Pendler müssen heute 20 Minuten früher aufstehen, um den Bus nach Spiez zu nehmen. Dort steigen sie dann auf den Zug um, der nachher in Leissigen hält – aber die Türen nicht öffnet», sagt Steuri.

Mit 80 km/h donnert der Bus über die Autobahn A8. Ein Sicherheitsrisiko, findet Yael Polli (50), Schulleiterin der Schule Leissigen. Der Bus sei jeden Morgen voll mit Schülern und Schülerinnen auf dem Weg ans Gymnasium Interlaken. Oft müssten sie stehen. «Die Chauffeure haben teilweise gar keinen Überblick beim Fahren. Einmal mussten sich die Schüler bücken, weil der Fahrer vom Steuer aus nicht in den Seitenspiegel sehen konnte.»

Häuschen an den Bushaltestellen wären eigentlich geplant gewesen, aber fehlen noch immer. Die Leissigerinnen und Leissiger würden «wortwörtlich im Regen stehen gelassen», schreibt die IG Leissigen Futura dazu in einem offenen Brief.

Freie Bahn für den Halbstundentakt

Auf die Strasse gestellt wurde Leissigen mit Aussicht auf eine Verbindung zwischen Zürich und Interlaken durch IC-Züge im Halbstundentakt. Bis 2035 soll es so weit sein. Dabei ist Leissigen von Bedeutung: Am Bahnhof befindet sich nämlich eine von drei Kreuzungsstellen auf der einspurigen Strecke entlang des Thunersees.

«Sobald dafür die nötige Infrastruktur fertig gebaut ist, werden auf den Gleisen am Thunersee nur noch IC-Züge verkehren – die in kleinen Orten wie Leissigen natürlich nicht halten», erklärt Christian Aebi, Vorsteher des Amtes für öffentlichen Verkehr und Verkehrskoordination des Kantons Bern den Plan.

Schon jetzt fahren Regiozüge nur noch alle zwei Stunden durch Leissigen. Bis diese durch Intercitys ersetzt werden, könnten die Leissiger also noch einsteigen. Dafür hätte aber das Perron barrierefrei umgebaut werden müssen.

Eine solche Investition für einige Jahre hätte sich aber laut Aebi nicht gelohnt: «Die Buserschliessung ist deutlich kostengünstiger und ermöglicht erst noch eine bessere Erschliessung der Dörfer zwischen Spiez und Interlaken.» Dass auch die Leissiger und Leissigerinnen profitieren würden, zeigten die Zahlen: Der Bus in Leissigen habe rund 40 Prozent mehr Passagiere als zuvor der Zug, so Aebi.

«Im stillen Kämmerlein entschieden»

Steuri will dennoch nicht von einem schlüssigen Entscheid sprechen. «Für unsere Gemeinde ist es unfair, unlogisch, unattraktiv und gar diskriminierend», zählt er auf.

Bestehen bleibt neben dem Ärger vor allem viel Unverständnis. Das Dorf sei schlecht informiert und nicht angehört worden: «Im stillen Kämmerlein wurde entschieden, und dann war es einfach so», klagt Steuri. Auch Polli kritisiert die Kommunikation. Die Bevölkerung wisse gar nicht mehr, worum es genau gehe und wo sie stehen würde.

Ein einsamer Kampf

Leissigen steht im Kampf um den Zug ziemlich allein da. Die Regionalkonferenz Oberland-Ost, ein Zusammenschluss von 28 Gemeinden der Region, befürwortet den Wechsel von Zug auf Bus. Auch die Gemeinde Därligen wurde vom Schienennetz abgehängt – da der Bahnhof aber abseits vom Dorf steht, sind die Därliger mit der Busverbindung besser erschlossen. Die Gemeinde hat die Busverbindung damals beim Grossrat sogar mit beantragt.

Steuri ist dennoch voller Tatendrang: «Wir wollen, dass die wichtigsten Züge die Türen für Pendler, Schüler und Gäste wieder öffnen.»

Die Kreuzungsstelle wird Ende dieses Jahres für eine längere Zeit von Leissigen nach Chrattighalde BE verlegt werden. Ob die Gallier dann noch genug Zaubertrank in Reserve haben, um für ihren Zug zu kämpfen, wird sich zeigen.

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