Empörter Gewerkschaftsboss Maillard
«Wirtschaftselite beginnt sich zu radikalisieren»

Pierre-Yves Maillard zerpflückt die Rezepte der Arbeitgeber gegen den Fachkräftemangel. Für die Angestellten sieht der SP-Nationalrat düstere Zeiten aufkommen.
Publiziert: 30.04.2023 um 11:51 Uhr
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Aktualisiert: 30.04.2023 um 19:02 Uhr
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Peter AeschlimannRedaktor

Die Arbeitgeber gehen in die Offensive. Am Montag präsentierte ihr Verband Massnahmen zur Bekämpfung des Fachkräftemangels – und die haben es in sich. Das Papier ist ein eigentliches Pamphlet gegen Teilzeit: Die Arbeitgeber verlangen, dass wir alle mehr und länger arbeiten – bis 70 und darüber hinaus. «Politische Vorstösse, welche die Arbeitszeit reduzieren wollen, sind abzulehnen», schreiben sie. Bei den Linken sorgen die Forderungen für Empörung. SonntagsBlick traf Pierre-Yves Maillard, den Präsidenten des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, im Bundeshaus zum Gespräch.

SonntagsBlick: Herr Maillard, die Arbeitgeber sagen, wir arbeiteten zu wenig. Wie kommt das bei Ihnen an?
Pierre-Yves Maillard: Die Arbeitgeber befinden sich in einer unkomfortablen Situation: Es herrscht Fachkräftemangel. Das bringt Arbeitnehmende und Gewerkschaften in bessere Positionen bei Lohnverhandlungen. Deshalb setzen die Arbeitgeberverbände alles daran, dies so rasch wie möglich zu ändern. Dass sie sich damit ins eigene Fleisch schneiden, realisieren sie nicht.

Wie meinen Sie das?
Da die Teuerung Teile des Einkommens wegfrisst, benötigen wir höhere Löhne, nicht tiefere. Was passiert, wenn die Kaufkraft sinkt, sehen wir jetzt: Massenhaft Konkurse im Gastgewerbe und im Detailhandel. Die Politik des Arbeitgeberverbandes ist wirtschaftsfeindlich, sie schadet den Interessen seiner Mitglieder und der Allgemeinheit.

Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard ärgert sich über die Forderungen des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes.
Foto: Thomas Meier
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Man merkt es Ihnen an: Sie ärgern sich.
Natürlich! Die Wirtschaftselite beginnt sich zu radikalisieren. Sie sitzen in ihren Verwaltungsratsbüros und wagen es, einer Pflegefachfrau oder einem Busfahrer vorzuschreiben, dass sie mehr arbeiten sollen. Ihre Forderungen sind eine Provokation.

Fakt ist doch: Die Erwerbstätigen arbeiten heute 14 Tage pro Jahr weniger als noch vor zehn Jahren. Der Trend zu mehr Teilzeit verschärft den Fachkräftemangel.
Die Arbeitgeberverbände reden immer von Freiheit und Flexibilität. Nun wollen sie den Leuten vorschreiben, wie viel sie zu arbeiten haben. Das ist alles andere als liberal. In den letzten 40 Jahren hat sich unsere Gesellschaft verändert – die Arbeitgeber scheinen aber nichts davon mitbekommen zu haben. Ich wuchs in einer Arbeiterfamilie auf, der Vater hatte keine Lehre gemacht, und dennoch konnte er mit seinem Lohn eine fünfköpfige Familie ernähren. Heutzutage benötigt es dafür zwei Einkommen. Wahr ist: Heute wird mehr Lohnarbeit geleistet als vor 40 Jahren.

Trotzdem haben Spitäler Mühe, ihre Betten zu betreiben. Das kann lebensgefährlich werden. Stehen Arbeitnehmende nicht in der Pflicht, in Krisenzeiten mehr zu leisten?
Wir bilden nicht genügend Personal aus. Das ist das Hauptproblem. Hinzu kommt, dass gerade in der Pflege viele Menschen aussteigen. Warum? Weil die Belastung zu gross ist. Wenn wir die Arbeitszeiten erhöhen, verlieren wir noch mehr Leute. In Sektoren, die besonders vom Fachkräftemangel betroffen sind, müssen wir die Arbeitsbedingungen verbessern. Dann bleiben die Leute auch.

Es gibt Wirte, die ihrem Personal Ferien schenken. Bauunternehmer bezahlen hohe Saläre, um die Leute halten zu können. Sie sagen es selbst: Die Zeiten sind gut für Angestellte!
In der Theorie, ja. Die Krux sind die gleichzeitig gestiegenen Lebenskosten. Gewisse Sektoren haben die Teuerung zum Anlass genommen, die Preise überproportional zu erhöhen. Es gibt im Programm der Arbeitgeber keinen einzigen Vorschlag, der dieses Problem lösen könnte.

Wie würde denn Ihr Vorschlag lauten?
In den nächsten Monaten werden viele Familien mehr fürs Wohnen bezahlen müssen, Krankenkassenprämien und Mehrwertsteuer steigen ebenfalls. Wir steuern düsteren Zeiten entgegen. Für uns ist klar: Die nächste Lohnrunde wird extrem wichtig. Wir fordern eine generelle Erhöhung der Löhne und Renten. Ein Land, das mit 259 Milliarden Franken eine Bank rettet, kann sich das leisten.

Zur Person: Pierre-Yves Maillard

Pierre-Yves Maillard (55) ist seit Mai 2019 Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). Zudem sitzt Maillard seit 2019 wieder für die SP im Nationalrat, wie schon von 1999 bis 2004. Bei den eidgenössischen Wahlen im Oktober kandidiert er zudem für den Ständerat, mit guten Erfolgsaussichten auf den Einzug ins Stöckli. Maillard ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Renens VD.

Pierre-Yves Maillard (55) ist seit Mai 2019 Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). Zudem sitzt Maillard seit 2019 wieder für die SP im Nationalrat, wie schon von 1999 bis 2004. Bei den eidgenössischen Wahlen im Oktober kandidiert er zudem für den Ständerat, mit guten Erfolgsaussichten auf den Einzug ins Stöckli. Maillard ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Renens VD.

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Der Arbeitgeberverband fordert mehr gezielte Zuwanderung, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Wie gross ist hier Ihre Kompromissbereitschaft?
Wir akzeptieren die Personenfreizügigkeit, wenn gute flankierende Massnahmen bestehen. Die Schweiz befindet sich mitten in Europa, sie ist umgeben von Ländern, in denen die Leute ein Drittel von dem verdienen, was wir hier verdienen. Damit das so bleibt, ist klar: Für die Personenfreizügigkeit gibt es keine Zukunft ohne griffigen Lohnschutz.

Im Ausland herrscht ebenfalls Fachkräftemangel. Ist das Rekrutieren in Deutschland, Polen oder Frankreich aus Ihrer Sicht ethisch vertretbar?
Kaum. Und ich erkläre Ihnen gerne, weshalb: Ein Freund von mir ist 55, er hat immer gearbeitet, auch in leitenden Funktionen. Sein Unternehmen hat stark unter der Covid-Pandemie gelitten und musste schliessen. Jetzt findet er keinen Job und bezieht Sozialhilfe. Andere wiederum haben keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe. Sie sind aber da. Also gibt es noch viel inländisches Potenzial – wenn die Arbeitgeber endlich Senioren einstellen!

Ihr Jugendfreund wird mit 55 kaum eine Lehre zum Pfleger absolvieren.
Vielleicht nicht, aber er will arbeiten! Auch bei den Jungen liegt viel Potenzial brach, viele finden keine Lehrstelle. In meinem Kanton, der Waadt, haben wir in 15 Jahren 7000 junge Leute aus der Sozialhilfe geholt. Dank Coaching und Unterstützung konnten sie eine Lehre absolvieren. Das kostete 30 Millionen Franken pro Jahr. Aber es rechnete sich, da wir weniger Sozialhilfe bezahlen mussten. Die Arbeitgeber sollten in diesem Bereich investieren, statt im Ausland zu rekrutieren.

Die Arbeitgeber stören sich daran, dass manche Studierende zu lange benötigen, und wollen sie zur Kasse bitten. Auch sollen mehr Leute an die HSG und weniger ins Romanische Seminar.
Also Planwirtschaft in der individuellen Bildung? Fakt ist: Die Familienarbeitszeit ist gestiegen. Wenn Menschen Teilzeit arbeiten, hängt das doch damit zusammen, dass Betreuungsplätze für den Nachwuchs fehlen.

Die Arbeitgeber fordern auch in diesem Bereich einen Ausbau.
Und gleichzeitig wollen sie, dass wir mehr und länger arbeiten. Das ist absurd. Wenn Sie mit 67 noch arbeiten, fehlen Sie bei der Kinderbetreuung. Man versteht es nicht: Mit der Erhöhung des Rentenalters schliesst man die grösste Krippe der Schweiz. Arbeiten die Grosseltern länger, haben sie keine Zeit, sich um Enkelkinder zu kümmern.

Was geschieht, wenn die Arbeitgeber mit ihren Forderungen durchkommen?
Sie hätten dann doppelt gewonnen: Es gäbe keinen Fachkräftemangel mehr – dafür könnten die Arbeitgeber ihre Belegschaft noch mehr auspressen. Für die Arbeitgeber wird das aber kein Spaziergang. Wir werden diese Forderungen hart bekämpfen.

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