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Gastkommentar Jacqueline Fehr
Kurz mal innehalten

Nach fünf Wochen Ausnahmezustand sind erste Lockerungen in Sicht. Was hat die Erfahrung des Lockdowns mit uns gemacht? Ein Gastkommentar der Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr.
Publiziert: 18.04.2020 um 23:59 Uhr
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Aktualisiert: 19.04.2020 um 10:33 Uhr
Jacqueline Fehr (SP), Justizdirektorin des Kantons Zürich.
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Es liegt in der Natur der Menschen, dass sich in schweren und schwierigen Lagen unsere Wahrnehmung schärft. Krisen verlangen Verzicht. Krisen zwingen zur Beschränkung – jeden und jede. Sie sind damit so etwas wie ein Blick durchs Brennglas: Sie machen uns bewusst, was uns teuer und wertvoll ist – und ebenso, was wir ohne viel Mühe bleiben lassen können. Der Shopping-Trip nach London? Verschmerzbar, wenn er ausfällt. Das Zusammensein mit Freundinnen, Freunden, Grosseltern, Enkeln? Das hingegen vermissen wir sehr.

Auch unser Verhältnis zum Staat und seinen Institutionen wird in Krisenlagen neu definiert. Wir erkennen, welche Eigenschaften, Leistungen und politischen Werte uns wirklich wichtig sind. Dass die Schweiz ein funktionierender Staat ist: geschenkt! Das wissen wir alle und hören es an jedem 1. August. Doch erst in der Krise wird uns richtig bewusst, was der Kern dieser Wahrnehmung ist – was der exakte Grund dafür ist, dass wir unserem Staat und unsren Institutionen vertrauen. Es sind drei Punkte:

Erstens ist es die Verlässlichkeit. Die Vertreterinnen und Vertreter von Bund, Kantonen und Gemeinden arbeiten zuverlässig, korrekt, ernsthaft, bescheiden, nach bestem Wissen und Gewissen. Und zwar in doppelter Hinsicht: einerseits in ihrem Bemühen, die Pandemie in den Griff zu bekommen, andererseits indem sie dafür sorgen, dass Behörden und Institutionen ihre Aufgaben und Dienstleistungen auch unter erschwerten Bedingungen wahrnehmen können.

Zweitens ist es die Faktentreue. Zahlen, Kurven, Modellrechnungen – sie sind so etwas wie die Fixsterne im Corona-Universum. Sie zeigen, wo wir stehen und wohin der Weg gehen muss. Unser Land steuert sicher durch die Krise, weil Behörden und Öffentlichkeit die Fakten anerkennen und sich an ihnen orientieren. Daten machen die Welt nicht besser und nicht schlechter. Aber sie zeigen, was ist, und das ist schon viel: So geben sie uns die Chance, die richtigen Entscheide zu treffen. In der Pandemie sind die Daten ein Teil der Kur und die Datenspezialisten in den statistischen Ämtern und anderswo ein Teil des Rettungsteams. Ohne sie wäre der Kampf gegen das Virus um ein Vielfaches schwieriger.

Drittens lässt uns die Krise Gemeinsinn erleben. Gemeinsinn entsteht durch Nähe. Anders gesagt: Das Wirken der Städte und Gemeinden ist auch und gerade in der Krise zentral. Der lokale Raum ist der Ort, wo alles konkret wird: Die Menschen, die erkranken; die Läden, Betriebe und Beizen, die geschlossen sind; die Seniorinnen und Senioren, die Unterstützung brauchen. Der lokale Raum ist aber auch der Ort, wo die Hilfe konkret wird: wo Studentinnen den Betagten beim Einkaufen helfen, wo Nachbarschaftshilfe entsteht, wo Kreativität und Solidarität blühen.

Globales Wirken und lokales Handeln

So verschafft uns die Erfahrung von fünf Wochen Lockdown einen neuen Blick auf das Verhältnis von globaler und lokaler Ebene. Es zeigt sich in seltener Klarheit: Globales Wirken und lokales Handeln sind wie Schwestern in der Bewältigung der Krise. Die weltweite Zusammenarbeit und der umfassende Informationsaustausch bei der Entwicklung eines Impfstoffs und der Suche nach Medikamenten sind die Früchte der Globalisierung. Die direkte Hilfe kann jedoch nur auf lokaler Ebene entstehen – dort, bei der Coiffeuse, beim Beizer, die ums wirtschaftliche Überleben kämpfen, wird sichtbar, wie nötig die grossen Hilfspakete sind.

Krisen wie die Corona-Pandemie haben einen hohen Preis – den höchsten bezahlen jene, die ihr Leben lassen müssen. Andere verlieren Angehörige. Nochmals andere leiden am wirtschaftlichen Schaden oder anderen Krisenfolgen. Der Staat und wir als Gemeinschaft müssen alles tun, um die Betroffenen zu unterstützen.

Angemessen, souverän und solidarisch

Zwar wissen wir nicht exakt, bei welcher Kilometermarke des Pandemie-Marathons wir stehen. Wir wissen aber, dass wir gut unterwegs sind und den Peak vermutlich überschritten haben. Nach einem Monat Ausnahmezustand lässt sich bilanzieren: Wir haben die bestmöglichen Voraussetzungen, um in diesem Marathon zu bestehen. Wir haben einen handlungsfähigen Staat und wir haben handlungswillige Menschen.

Den handlungsfähigen Staat haben wir uns demokratisch erkämpft, indem wir die Privatisierungsambitionen unterbunden haben. Unser Service public ist stark – und das ist ein Segen, nicht nur, aber ganz besonders in der Krisenzeit. Die handlungswilligen Menschen sind wir alle: Die Schweizer Bevölkerung verhält sich angemessen, souverän und solidarisch. Das hat sich auch und gerade über die Ostertage gezeigt.

Vergangene Woche hat der Bundesrat den Weg zurück in die Normalität skizziert – es wird eine schrittweise Rückkehr sein, und sie gelingt nur, wenn wir uns weiterhin anstrengen. Umso mehr lohnt es sich, kurz innezuhalten und uns bewusst zu werden, welchen Weg wir in den letzten Wochen bereits zurückgelegt haben. Es ist eine grosse Leistung, die wir als Gesellschaft vollbracht haben. Sie darf uns ein bisschen stolz machen – und sie gibt uns Mut und Zuversicht für die noch bevorstehende Strecke.

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