Foto: Thomas Meier

Genet Haileslasse (34) darf ihr Kind nicht in die Schweiz holen – jetzt demonstriert sie gegen die Abschaffung des Familiennachzugs
«Ich habe meine Tochter (12) seit zehn Jahren nicht mehr gesehen»

Die Eritreerin Genet Haileslasse (34) lebt in der Schweiz – und darf ihr Kind (12) weder in die Schweiz holen noch besuchen. Das soll so bleiben, zumindest wenn es nach dem Nationalrat geht. Dagegen kämpfte sie am Samstag.
Publiziert: 28.09.2024 um 19:44 Uhr
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Aktualisiert: 29.09.2024 um 22:27 Uhr

Kurz zusammengefasst

  • Genet floh aus Eritrea, ihre Tochter blieb zurück
  • Nationalrat will Familiennachzug für vorläufig Aufgenommene abschaffen – das trifft auch Genet
  • 120'000 Menschen unterschrieben Appell gegen Nationalratsentscheid
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
Die Eritreerin Genet Haileslasse lebt in der Schweiz – und darf ihr Kind weder hierherholen noch besuchen.
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Céline ZahnoPraktikantin Politik

Vor zehn Jahren musste sich Genet Haileslasse (34) entscheiden: für ihre Tochter oder die eigene Zukunft. In ihrem Heimatdorf Awhune in Eritrea drohte die Zwangsrekrutierung ins Militär. Genet musste weg. Die damals zweijährige Rahset konnte sie nicht mitnehmen, zu gefährlich war die Flucht.

Genet ist gegangen. Und hat ihre Tochter nun seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. «Ich bin daran innerlich zerbrochen.» Ihre Wahl quält Genet noch immer jeden Tag. Früher telefonierte sie täglich mit Rahset. Diese musste dann jedes Mal so viel weinen, dass Genet immer weniger angerufen hat. Heute ist das Mädchen 12 Jahre alt und wohnt bei entfernten Verwandten in Äthiopien. Die Mutter in der Schweiz. Ein Wiedersehen fast unmöglich.

Hohe Hürden für Familiennachzug

Genets Flucht führte sie damals über Äthiopien, Sudan, Tschad, Libyen und Italien bis in die Schweiz. Ein Jahr lang war Genet unterwegs, vier Monate davon musste sie in der Gefangenschaft von Schleppern ausharren. Sie erhielt nur eine Mahlzeit am Tag und durfte ihre Zelle nicht verlassen. Für sie war immer klar: Sie will es an einen sicheren Ort schaffen, damit sie die Tochter zu sich holen kann.

Geklappt hat das bis heute nicht. In der Schweiz wurde das Asylgesuch von Genet abgelehnt. Eigentlich müsste sie das Land verlassen. Doch weil Eritrea keine Rückführungen akzeptiert, darf sie bleiben – als vorläufig Aufgenommene. Das bedeutet hohe Hürden, damit Genet ihre Tochter Rahset in die Schweiz holen kann: Es gelten etwa lange Wartefristen, ihre Wohnung muss gross genug sein, Genet darf nicht von Sozialhilfe abhängig sein.

Fast unmögliche Voraussetzungen. Sie wohnt im Tessin, dort sei es schwierig, einen Job zu finden. In Freiburg hatte sie eine Anstellung, durfte aber nicht in den Kanton ziehen. Nach wenigen Monaten musste sie kündigen. Zeitweise hat sie Sozialhilfe bezogen. Somit kaum Chancen, die Tochter Rahset in die Schweiz zu holen. Immer wieder hat sie es versucht. Ohne Erfolg.

Entscheid des Nationalrats schlägt Wellen

Und nun will der Nationalrat das Recht auf Familiennachzug für vorläufig Aufgenommene vollständig abschaffen. Am Dienstag hat er einen entsprechenden Vorstoss der SVP angenommen.

Asylminister Beat Jans (60) hat während der Ratsdebatte vergeblich gewarnt: Lediglich um die 100 Bewilligungen für solche Nachzüge wurden in den letzten vier Jahren jeweils erteilt. Ausserdem stehe das Recht auf Familienleben in der Verfassung. Die Chancen seien gross, dass das Bundesgericht eine Abschaffung nicht dulden würde.

Selten schlägt ein Parlamentsentscheid so hohe Wellen. Innerhalb von 24 Stunden haben 120'000 Menschen einen Appell an den Ständerat unterschrieben, dem Nationalrat nicht zu folgen. Die kleine Kammer hat den Vorstoss auf einen entsprechenden Antrag an die zuständige Kommission zurückgewiesen. Vom Tisch ist er damit allerdings noch nicht.

Genet hofft auf Ständerat

Am Samstag demonstrierte Genet zusammen mit dem Verband F, der sich für vorläufig Aufgenommene einsetzt, und über 100 weiteren Asyl- und Migrationsorganisationen auf dem Bundesplatz. Gegen tausend Menschen hatten sich versammelt, um für das Recht auf Migration und Asyl zu demonstrieren.

Das Asyl- und Migrationsregime sei geprägt von Ausgrenzung und Entrechtung, wurde von den Demonstrierenden kritisiert. «Wenn mein Recht auf Familiennachzug aufgehoben wird, stirbt auch noch meine letzte, kleine Hoffnung, dass ich mein Kind noch irgendwann in die Schweiz holen kann», sagt Genet.

Dass Rahset in die Schweiz kommt, ist die einzige Möglichkeit für ein Wiedersehen. Nach Eritrea reisen darf Genet nicht. Dafür bräuchte sie einen Pass – als Eritreerin bekommt sie den nicht, ohne ein Schuldgeständnis und damit Strafmassnahmen zu akzeptieren. Ausserdem müssen Kontaktdaten von verbliebenen Angehörigen in Eritrea angegeben werden – womit man erpressbar wird und Freunde und Familie in Gefahr bringt. 

Genet bangt also um den Entscheid des Ständerats. «Wenn es keine Möglichkeit mehr gibt, dass meine Tochter bei mir ist, macht mein Leben keinen Sinn mehr. Ich lebe für sie.» Besonders schlimm sei, dass sie sich gegen eine Aufhebung des Rechts nicht wehren könne. «Ich habe keine Stimme gegen die Leute, die die Gesetze machen.»

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