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«Härtere Gangart bei Gutachten»
IV-Meldestelle prangert Missstände an

Erneut steht die Gutachten-Praxis bei der Invalidenversicherung (IV) in der Kritik. Der Behinderten-Dachverband hat eine Meldestelle für Opfer von Behördenwillkür geschaffen – und zieht nach sieben Monaten eine erschreckende Zwischenbilanz.
Publiziert: 03.10.2020 um 11:22 Uhr
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Aktualisiert: 23.01.2021 um 22:24 Uhr
Bundesrat Alain Berset hat eine externe Untersuchung bei der IV in Auftrag gegeben.
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Seit Ende Februar gibt es für Opfer von Behördenwillkür bei den IV-Gutachten eine Meldestelle von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen. Nach sieben Monaten zieht diese eine erschreckende Zwischenbilanz: Willkürliche IV-Gutachten seien gang und gäbe. In vielen Fällen seien die Abklärungen nicht fair. Fehlbare Gutachter gehörten aus dem Verkehr gezogen und alle Gutachten müssten nach dem Zufallsprinzip vergeben werden.

Bis Ende September seien insgesamt rund 300 Meldungen von Versicherten, Rechtsvertretern und Ärzten mit Beanstandungen eingegangen. Die Eingaben zeichnen ein trübes Bild der Gutachtertätigkeit – und seien «keine Einzelfälle». Einige Gutachter würden die Arbeitsfähigkeit systematisch zu hoch einschätzen und dafür von den IV-Stellen immer wieder mit lukrativen Aufträgen belohnt. Es seien 53 Meldungen eingegangen, wonach die Gutachter den jeweiligen Versicherten zu 100 Prozent arbeitsfähig einschätzten; die behandelnden Ärzte dagegen hätten in jedem dieser Fälle 0 Prozent attestiert.

Entscheid nach 15 Minuten Gespräch

«Diese Fälle zeigen die klare Tendenz der harten Gangart in den Gutachten auf», schreibt Inclusion Handicap. Zuweilen reiche den Gutachtern ein Gespräch von 15 oder 20 Minuten, um über das Anrecht auf eine IV-Rente zu entscheiden, ohne Rücksicht auf die Schlüsse des Arztes. 20 Mal hätten Ärzte gemeldet, dass die Gutachten nicht dem medizinischen Standard entsprächen. Zudem berichte die überwiegende Mehrheit der Versicherten, dass die Diagnosen nicht oder nur teilweise übereinstimmten. Mehr als die Hälfte der Eingaben thematisiere das schlechte Klima, in dem die Gutachtergespräche stattgefunden hätten. Dabei habe es auch Simulationsvorwürfe gegeben.

Die Meldestelle ist gegründet worden, nachdem unter anderem SonntagsBlick Fälle publik gemacht hatte, bei denen sich Gutachter und Ärzte am Geschäft mit der IV eine goldene Nase verdienten. Laut Inclusion Handicap hat sich nun der Verdacht erhärtet, «dass einige Gutachter mit lukrativen Aufträgen belohnt werden, wenn sie die Arbeitsunfähigkeit tief einschätzen».

Analyse verspätet sich

Diese Enthüllungen haben selbst Bundesrat Alain Berset (48) aufgeschreckt. Vergangenen Winter hat der SP-Gesundheitsminister eine externe Untersuchung angeordnet, um das Gutachterwesen in der Invalidenversicherung zu durchleuchten. Gegenstand der Analyse ist auch die Aufsichtstätigkeit des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV). Die Ergebnisse hätten eigentlich in diesem Sommer vorliegen sollen. Doch der Bericht verspätet sich: Mit der Publikation sei erst diesen Herbst – voraussichtlich noch im Oktober – zu rechnen, heisst es auf Nachfrage beim Innendepartement.

Inclusion Handicap zeigt sich gespannt auf den Bericht. Und erhofft sich auch Verbesserungen von der IV-Revision, die ab 2022 in Kraft treten soll. Diese sieht namentlich vor, dass Gutachtergespräche künftig aufgezeichnet werden müssen.

Der Dachverband fordert zudem, dass alle Gutachten nach dem Zufallsprinzip vergeben und fehlbare Gutachter aus dem Verkehr gezogen werden sollen. Zudem müsse bei einem Gutachtergespräch immer eine Drittperson dabei sein. Und Fälle, bei denen Versicherte aufgrund von nachweislich schlechten Gutachten keine oder zu tiefe Leistungen erhalten haben, müssten neu aufgerollt werden, so Inclusion Handicap. (gbl)

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