«Wir hätten zusätzliches Personal einstellen können»
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Hotel spürt Fachkräftemangel:«Wir hätten zusätzliches Personal einstellen können»

Hoteldirektorin Theresia Sokoll kämpft um jeden Angestellten
Weniger Zuwanderung, mehr Personalnot

Im Gastgewerbe bleiben Tausende Stellen unbesetzt. Auch in anderen Branchen verschärft sich der Fachkräftemangel – weil die Zuwanderung wohl bald wieder sinken wird.
Publiziert: 30.04.2023 um 00:11 Uhr
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Aktualisiert: 30.04.2023 um 08:56 Uhr

Im Sommer 2020 übernahm Theresia Sokoll (48) das Hotel Kettenbrücke in Aarau. Mitten in der Pandemie. Nicht nur die Lockdowns machten der neuen Direktorin Sorgen. Es fehlte an Personal, besonders in der Küche und im Service. Doch jammern lag nicht drin. Sokoll schloss das Restaurant jeden Montag, organisierte die Belegschaft um und packte selbst mit an – an den Tischen, beim Geschirrspülen, am Empfang.

Die Pandemie endete, die Rekrutierungsprobleme blieben. «Zu schaffen machen uns besonders kurzfristige Ausfälle des Personals», sagt Sokoll. «Im Gegensatz zu früher haben wir heute keine Chance, rasch Ersatz zu finden.» Wenn es gar nicht mehr geht, stoppt die Direktorin die Reservationen.

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Sokoll kam als 16-Jährige aus Österreich, um als Restaurationsfachfrau zu arbeiten. Bildete sich weiter, machte Karriere. Ihre 34 Angestellten stammen aus der Schweiz, aber auch aus Österreich, Somalia, Sri Lanka, den Philippinen und der Ukraine. «Ohne Zuwanderung könnten wir einen solchen Betrieb nicht führen», sagt Sokoll. «Wir finden schlicht nicht genug Inländer, um alle Stellen zu besetzen.»

Weil die Angestellten fehlen, packt sie selber mit an: Hoteldirektorin Theresia Sokoll.
Foto: Philippe Rossier
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Paradox: Die Schweiz verzeichnet – auch dank der Personenfreizügigkeit – seit Jahren eine hohe Zuwanderung, trotzdem fehlt es je länger, je mehr an Fachkräften. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Gastrobranche. Laut einer Mitgliederumfrage von Gastrosuisse sind über 60 Prozent aller Hotels nicht mehr in der Lage, geeignetes Personal zu finden.

Die Zahl unbesetzter Vollzeitstellen im Gastgewerbe ist auf Rekordhöhe gestiegen, wie eine neue Auswertung des Branchenverbands zeigt – von 2000 im Jahr 2015 auf aktuell 8500 Stellen. Dabei hat die Branche nicht weniger zu tun, sondern mehr: Die Logiernächte nehmen zu. Im Jahr 2010 kamen 509 Übernachtungen auf eine Vollzeitstelle, heute sind es 605. Das zeigt eine exklusive Auswertung von Hotelleriesuisse.

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Der Fachkräftemangel zieht sich durch die ganze Wirtschaft. Swissstaffing, der Verband der Personaldienstleister, hat für SonntagsBlick die Anzahl offener Stellen pro arbeitslose Person ausgewertet. Dabei zeigt sich: Ob Maschinenbau, Gesundheit, Informatik, Banken, Versicherungen oder Gastgewerbe – noch nie gab es so viele offene Jobs pro arbeitslose Person.

Das Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage bekommt auch die Temporärbranche zu spüren: Erstmals seit zwei Jahren ist das Vermittlungsgeschäft ins Minus gerutscht – um 3,4 Prozent. Denn die Firmen bieten den Zeitarbeitern vermehrt fixe Verträge an, wie Marius Osterfeld (37), Chefökonom von Swissstaffing, sagt: «Die Firmen suchen intensiv Mitarbeiter und binden sie möglichst rasch fest an sich.»

Weil der hiesige Markt trocken liegt, suchen die Firmen noch intensiver in den Nachbarländern. Bloss: Auch dort herrscht Arbeitskräftemangel. Der Grund ist die Alterung der Gesellschaft. In Deutschland geht der Anteil Erwerbstätiger an der Gesamtbevölkerung bis 2040 um 14 Prozent zurück, in Italien um 18, in Spanien um 16 Prozent. In Europa sinkt die Anzahl Personen im Erwerbsalter derzeit um fast drei Millionen pro Jahr. Das zeigen Berechnungen des Kompetenzzentrums Demografik.

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«Für die Schweiz dürfte es künftig schwieriger werden, fehlende Mitarbeiter im Ausland zu rekrutieren», sagt Demografik-Leiter Hendrik Budliger (48). Denn: «Ab 2026 wird die Zuwanderung in die Schweiz stagnieren oder sogar rückläufig sein.» Hinzu kommt die anstehende Pensionierungswelle der Babyboomer. Beides zusammen hat laut Budliger zur Folge, dass auch in der Schweiz die Bevölkerung im erwerbstätigen Alter abnehmen wird.

Gut möglich also, dass die Diskussion in ein paar Jahren genau andersrum geführt wird: Statt über «zu viele» diskutiert die Schweiz vielleicht bald über «zu wenige» Einwanderer. Denn die hohen hiesigen Saläre reichten nicht aus, um Fachkräfte anzuziehen, warnt Budliger. «Es gibt auch Gründe, die gegen die Schweiz sprechen.» So sei die Kinderbetreuung hierzulande deutlich teurer als anderswo. Auch Wohneigentum könne man sich im Ausland viel eher leisten als in der Schweiz, sagt Budliger. Schaffe es die Schweiz nicht, gegenüber dem Ausland attraktiver zu werden, werde die Erwerbsbevölkerung schrumpfen. «Das hätte erhebliche Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft.»

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«Ohne Zuwanderung können wir einen solchen Betrieb nicht führen»
Theresia Sokoll, Hotelchefin
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Der Demograf lenkt den Blick zudem auf eine Kategorie, über die – trotz ihrer hohen Zahl – selten gesprochen wird: die Auswanderer. Jene also, die nach ein paar Jahren in der Schweiz zurück nach Deutschland, Frankreich oder Italien ziehen. Entgegen der landläufigen Meinung handelt es sich dabei nicht in erster Linie um Rentner, im Gegenteil: Laut Berechnungen von Demografik wandert der grösste Teil der Personen zwischen Mitte 20 und Ende 30 aus; das Medianalter liegt bei 33 Jahren. «Die meisten Auswanderer sind jung, oft handelt es sich um Familien», sagt Budliger. «Diese Kinder werden hierzulande fehlen – als künftige Arbeitskräfte, Steuerzahler, AHV-Beitragszahler.»

Wirtschaftsprofessor Reto Föllmi (47) von der Uni St. Gallen hat sich die Aufenthaltsdauer der Ein- und Auswanderer genauer angeschaut. Sein Befund: «Nach drei Jahren ist nur noch die Hälfte der Eingewanderten da.» Die Fluktuation ist also hoch – wobei viele Kurzaufenthalter einen befristeten Arbeitsvertrag haben. Anders als Budliger macht Föllmi die hohe Auswanderungsrate von jungen Leuten aber wenig Sorgen. «Zwischen 20 und 45 Jahren gibt es viele , die mobil sind. Das gehört zu dieser Lebensphase.» Zudem sei es nicht so, dass man die Leute nicht halten könne. «Der Schweiz gelingt es, viele Hochqualifizierte aus dem EU-Raum anzuziehen und zu integrieren.»

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Damit ist der Arbeitskräftemangel aber nicht aus der Welt. Marco Salvi (53) von der Denkfabrik Avenir Suisse sagt: «Wächst die Wirtschaft gleich weiter wie in den letzten 20 Jahren, fehlen im Jahr 2050 rund 1,3 Millionen Fachkräfte.» Es brauche deshalb stärkere Anreize zur Erwerbstätigkeit, etwa die Individualbesteuerung. Gefragt sei aber auch eine durchdachtere Zuwanderungspolitik, sagt Salvi. «Weil die Fachkräfte in Europa ebenfalls knapp werden, muss die Schweiz die Arbeitsmigration aus Drittstaaten verstärken.»

Darauf pochen auch die Gastroverbände. Doch Vorstösse für leichtere Zulassungsbedingungen für Personen aus Drittstaaten dürften es in Bundesbern schwer haben. Derzeit weht der Wind eher aus der anderen Richtung: Die SVP stellt mit der angekündigten «Nachhaltigkeits-Initiative» einmal mehr die Personenfreizügigkeit infrage – Fachkräftemangel hin oder her.

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