«Wir in Europa haben entdeckt, dass Krieg noch existiert»
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Bundespräsident Cassis im Talk:«Wir in Europa haben entdeckt, dass Krieg noch existiert»

Immer mehr Stimmen fordern Verhandlungen
Verliert Selenski den Rückhalt des Westens?

Die Stimmen, die eine Verhandlungslösung fordern, um den Krieg in der Ukraine zu beenden, mehren sich. Nicht nur in der Schweiz, sondern im gesamten Westen. Und auf den Winter hin dürfte der Druck auf Selenski zunehmen.
Publiziert: 13.07.2022 um 11:59 Uhr
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Aktualisiert: 13.07.2022 um 15:03 Uhr
Sermîn Faki

Es gebe keine andere Alternative, als mit Wladimir Putin (69) zu verhandeln. Ex-GLP-Präsident Martin Bäumle (58) wiederholte am Dienstag seine Ansicht, dass der russische Angriffskrieg in der Ukraine anders nicht zu beenden sei.

Und nicht nur das: Die Ukraine müsse dafür definitiv auf die Halbinsel Krim – die seit 2014 faktisch russisch sei – und den Donbass verzichten. «Ich glaube nicht mehr, dass sich die dortigen Separatistengebiete in die Ukraine zurückintegrieren lassen», so Bäumle im Interview mit dem «Tages-Anzeiger». Ein Appeaser – jemand, der auf Kuschelkurs mit Putin geht – sei er deswegen nicht, so der Zürcher Nationalrat weiter.

Schon zuvor hatte sich SVP-Vizepräsidentin Magdalena Martullo-Blocher (52) für Verhandlungen und gegen die harte Haltung des Westens ausgesprochen.

Die Ukraine müsse den Krieg mit Verhandlungen beenden und damit auch Gebiete aufgeben. Das fordern immer mehr Stimmen. Im Bild Druschkiwka im Donbass.
Foto: IMAGO
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Cassis' vielsagende Äusserung

Nun sind weder Martullo noch Bäumle als Schweizer Parlamentarier matchentscheidend. Aber sie sind auch nicht allein: Bundespräsident Ignazio Cassis (61) sagte vergangene Woche in der Blick-TV-Sendung «Hier fragt der Chef», die 44 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer werden des Kriegs müde. «Und vielleicht werden sie bereit sein für Kompromisse, auch wenn diese für die Ukraine Verluste bedeuten.» Je länger der Krieg dauere, desto höher werde der Druck auf den ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenski (44), so der Schweizer Aussenminister.

Und weiter: «Ich denke, die Solidarität mit der Ukraine ist aktuell immer noch gross. Aber sie lässt mit der Zeit auch nach. So ist es immer.» Das zeige sich am Beispiel der Waffenlieferungen, wo die Bereitschaft in den westlichen Staaten abnehme. «Weil die Leute das Gefühl haben: Wenn die ersten Waffen nicht reichen, um den Krieg zu beenden, wird es bei den weiteren schwierig.»

Verzicht «dem Frieden zuliebe»

Es ist anzunehmen, dass der Schweizer Aussenminister seine Aussagen auf Informationen aus anderen Staaten stützt, die ebenfalls auf ein schnelles Ende des Kriegs drängen – und sei es mit Verlust bestimmter Gebiete.

In der Tat steht Cassis nicht allein an. Die Stimmen, die eine Verhandlungslösung fordern, mehren sich. Löste der ehemalige US-Aussenminister Henry Kissinger (99) im Mai am WEF in Davos noch Protest aus, als er Verhandlungen forderte, weil Europas Stabilität nicht «wegen ein paar Quadratkilometern im Donbass» aufs Spiel gesetzt werden sollte, wagen nun auch andere diese Gedanken. So sagte etwa Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg (63), dass die Ukraine «dem Frieden zuliebe» über die Aufgabe von Territorien nachdenken sollte.

Druck wird zunehmen, je kälter es wird

Am striktesten gegen eine solche Lösung stellen sich derzeit die US-Administration unter Präsident Joe Biden (79) und die Briten unter (Noch-)Premier Boris Johnson (58). Doch wie wird seine Nachfolgerin, sein Nachfolger das Thema bewerten? Das ist offen.

Und selbst die USA signalisieren Kompromissbereitschaft. So sagte der italienische Ministerpräsident Mario Draghi (74) nach Gesprächen mit Biden, dieser habe Offenheit gezeigt für einen Friedensprozess.

Man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass der Druck auf die Ukrainerinnen und Ukrainer, sich mit Putin an einen Tisch zu setzen und Territorien abzutreten, stärker werden wird, je näher der Winter rückt. Denn dann droht eine Energiekrise, die die europäischen Bevölkerungen treffen könnte. Und ein erneuter grosser Strom von ukrainischen Flüchtlingen, die vor dem bitterkalten Winter im kriegsversehrten Land fliehen.

Westen spielt Putin in die Hände

Doch solche Gedankenspiele haben einen Haken: Ein Frieden mit territorialen Zugeständnissen an Putin würde der Kreml-Herrscher als Schwäche des Westens deuten. Und als Zeichen, dass er seine imperialen Gelüste in den ehemaligen Sowjetrepubliken weiterhin rücksichtslos durchsetzen kann. War es 2014 die Krim und ist es 2022 der Donbass – was kommt als nächstes? Verleibt er sich in ein paar Jahren die Region Charkiw im ukrainischen Norden ein?

Diese Sorge treibt unterdessen auch Ex-Aussenminister Kissinger um. Wenn Russland durch Verhandlungen den ganzen Donbass und den Streifen am Schwarzen Meer entlang erhalte, werde dies als Schwäche der Nato interpretiert, ein befreundetes Land nicht schützen zu können, sagte er auf CNN. Seiner Meinung nach könnten Verhandlungen nur dort anfangen, wo Russland und die Ukraine vor dem Angriff vom 24. Februar standen.

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