Darum klagt Rosmarie Wydler-Wälti (72) gegen die Schweiz
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«Haben höchstes Sterberisiko»:Darum klagt Rosmarie Wydler-Wälti (72) gegen die Schweiz

Klage der Klima-Seniorinnen
Grosi Wydler-Wälti verklagt die Schweiz

Rosmarie Wydler-Wälti und ihr Verein Klima-Seniorinnen verklagen die Schweiz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Publiziert: 14.06.2022 um 00:14 Uhr
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Aktualisiert: 22.06.2022 um 21:48 Uhr
Gianna Blum

Das Thermometer klettert über 27 Grad, und der Himmel ist strahlend blau. Für Mai ist das Wetter beim Besuch von Blick bei Rosmarie Wydler-Wälti (72) eigentlich viel zu heiss. Dieses Jahr, so die Meteorologen, könnte wieder ein Hitzesommer drohen.

Für Wydler-Wälti ist das Wetter mehr als Small Talk. Die schlanke Frau mit den kinnlangen grauen Haaren und den acht Enkelkindern verklagt die Schweiz gerade vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Irgendwann – voraussichtlich noch dieses Jahr – wird sie mit ihrem Verein Klima-Seniorinnen in Strassburg als Klägerin auftreten. Der Vorwurf: Die Schweiz tue zu wenig, um ältere Frauen vor den Folgen der Klimakatastrophe mit Hitzewellen zu schützen.

Wydler-Wälti ist die Galionsfigur

Wydler-Wälti ist Co-Präsidentin der Klima-Seniorinnen, eines Vereins, der von der Umweltschutzorganisation Greenpeace genau für diese Art Klage ins Leben gerufen worden ist. Die Basler Paar- und Erziehungsberaterin ist quasi die Galionsfigur des Anliegens. Denn im Hitzesommer 2003 wurde festgestellt, dass vor allem Frauen ab 75 Jahren besonders betroffen waren und häufiger als andere zu den Hitzetoten zählten. Gleichzeitig müssen in der Schweiz Klägerinnen und Kläger einen direkten Schaden geltend machen, um vor Gericht zu kommen.

Die Basler Grossmutter Rosmarie Wydler-Wälti ist Co-Präsidentin der Klima-Seniorinnen.
Foto: STEFAN BOHRER
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Greenpeace brauchte also Frauen wie Wydler-Wälti, um überhaupt Klage einreichen zu können. Bei ihr hätte die Organisation offene Türen eingerannt, sagt sie. «Meine Generation hat das Desaster überhaupt erst verursacht.» Ihr sei Klima immer ein Anliegen gewesen, versichert Wydler-Wälti. «Früher nannte man das eben Umwelt, gemeint war dasselbe.»

1975, bei den Grossdemos gegen das geplante Atomkraftwerk in Kaiseraugst, war sie zuvorderst mit dabei. «Meine Schwiegereltern haben das überhaupt nicht verstanden, sie fanden es frech, dass man gegen Pläne des Bundesrats protestiert.»

Die schwätzenden Männer

Bei den Klima-Seniorinnen ist Wydler-Wälti schon seit der Gründung 2016 dabei. «Lange hat man uns nicht so recht ernst genommen», sagt sie – vor allem nicht in der Schweiz. Einmal sei sie in die SRF-«Arena» eingeladen worden. «Die Männer haben fürchterlich viel geschwätzt, ich bin kaum zu Wort gekommen», erzählt die Seniorin in ihrem breiten Basler Dialekt und verdreht die Augen. Damals sei sie wohl auch noch etwas zu scheu gewesen, sich zu behaupten.

In der Schweiz ist die Klima-Klage bereits durch alle Instanzen gegangen, angefangen von einer Beschwerde bei der damaligen Umweltministerin Doris Leuthard (59) über das Bundesverwaltungsgericht bis hin zum Bundesgericht. Bei jeder Instanz ist der Verein bislang unterlegen, mit unterschiedlichen Begründungen. Mal gaben formale Gründe den Ausschlag, und das Bundesgericht argumentierte, dass ja noch Zeit bestehe, um die Klimaziele zu erreichen. «Das hat uns wahnsinnig enttäuscht, diese Begründung ist einfach nur peinlich», findet Wydler-Wälti.

Auch das Schweizer Volk hat nicht im Sinn der Klima-Seniorinnen entschieden, hat die Stimmbevölkerung letztes Jahr doch das revidierte CO2-Gesetz bachab geschickt. Wydler-Wälti wehrt sich aber gegen das Argument, dass die Klage der Versuch sei, auf rechtlichem Weg zu erzwingen, was politisch nicht gelingt. «Das eine schliesst das andere nicht aus!», sagt sie, schliesslich sei sie auch im Initiativkomitee für die Gletscher-Initiative. «Und wenn wir gewinnen, gewinnen alle.»

Höchste Instanz

Der Europäische Gerichtshof nimmt die Klage ernster als die Schweizer Gerichte. Das zeigt sich laut Greenpeace daran, dass das Anliegen an die Grosse Kammer überwiesen wurde – die höchste Instanz des Gerichts. Erwartet wird, dass dieses Jahr noch eine öffentliche Verhandlung angesetzt wird, bei der die Kammer entscheiden muss, ob die Menschenrechte der Frauen durch mangelhafte Klimaschutzpolitik verletzt worden sind.

Ganz neu sind Klagen dieser Art nicht. Nach einem Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts musste etwa die Bundesregierung beim Klimaschutz nachbessern. In verschiedenen europäischen Ländern gibt es Klagen ähnlicher Art, vielerorts ist wiederum Greenpeace involviert.

Ein Urteil im Fall der Klima-Seniorinnen hätte Signalwirkung weit über die Schweiz hinaus, schliesslich haben 47 Staaten die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert. Hierzulande würde ein solches die Behörden unter Druck setzen – auch wenn die entsprechenden Gesetze nach wie vor auf politischem Weg ausgehandelt werden müssen.

Nationalrat diskutiert über Netto-Null

Wie geht es mit der Schweizer Klimapolitik weiter? Eine wichtige Weichenstellung wird am Dienstag gemacht: Der Nationalrat entscheidet, wie es mit der Gletscher-Initiative weitergeht. Diese will das Klima-Ziel der Schweiz – netto null Treibhausgasemissionen bis 2050 – in die Verfassung schreiben. Fossile Energien wie Benzin und Diesel sollen ab dann verboten sein.

Dem Bundesrat und einem Teil des Parlaments geht das zu weit. Diskutiert wird ein Gegenvorschlag zur Initiative: Während sich der Bundesrat unter Federführung von Umweltministerin Simonetta Sommaruga (62) für einen Gegenvorschlag auf Verfassungsstufe ausgesprochen hat, würden die Umweltpolitiker des Nationalrats lieber direkt das Gesetz anpassen. Das ginge schneller. Nebst Netto-Null 2050 sollen Zwischenziele für einzelne Sektoren festgelegt werden. Fossile Energien würde nicht explizit verboten.

Die Köpfe hinter der Gletscher-Initiative haben signalisiert, dass sie bereit wären, diese zurückzuziehen, wenn der Gegenvorschlag so durchkommt. Lea Hartmann

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Dem Bundesrat und einem Teil des Parlaments geht das zu weit. Diskutiert wird ein Gegenvorschlag zur Initiative: Während sich der Bundesrat unter Federführung von Umweltministerin Simonetta Sommaruga (62) für einen Gegenvorschlag auf Verfassungsstufe ausgesprochen hat, würden die Umweltpolitiker des Nationalrats lieber direkt das Gesetz anpassen. Das ginge schneller. Nebst Netto-Null 2050 sollen Zwischenziele für einzelne Sektoren festgelegt werden. Fossile Energien würde nicht explizit verboten.

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