Klima- und Energiepolitik
Warum wir unsere Sparziele tatsächlich nicht erreichen

Der Klimawandel schreitet voran, gleichzeitig droht der Schweiz ein Stromengpass. Mit immer neuen Vorgaben und Abgaben versucht der Bund, dem entgegenzuwirken. Dabei aber legt er nicht alle Karten offen auf den Tisch.
Publiziert: 02.03.2022 um 17:48 Uhr
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Aktualisiert: 03.03.2022 um 14:22 Uhr
Daniel Ballmer

In zwei Monaten müssen wir die Karten auf den Tisch legen: Mitte April soll die Schweiz das Treibhausgasinventar für die Jahre 1990–2020 beim Uno-Klimasekretariat einreichen. Dann wird abgerechnet, ob wir die Klimaziele von Kyoto erreichen. Die Schweiz hat sich verpflichtet, die Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um 20 Prozent zu senken.

Doch schon jetzt ist klar, dass das nicht klappen wird. Bereits letztes Jahr hatte das Bundesamt für Umwelt (Bafu) prophezeit, dass wir das Ziel verfehlen. Und das deutlich: Die Emissionen lagen damals nur 14,5 Prozent tiefer als im Basisjahr 1990. Eine Verstärkung der Massnahmen sei unumgänglich, so das Klima-Amt von Umweltministerin Simonetta Sommaruga (61).

Die Botschaft ist klar: Herr und Frau Schweizer leben auf zu grossem Fuss. Sommaruga lässt daher nicht locker. Kaum hatte das Volk im Juni das CO2-Gesetz abgelehnt, nimmt sie einen nächsten Anlauf. Die neue Vorlage solle es der Bevölkerung erleichtern, klimafreundlich zu leben, erklärte die Bundesrätin. «Allen ist klar, dass wir nicht so weitermachen können wie bisher.»

Ob Klimawandel oder Stromkrise: SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga will bei den erneuerbaren Energien aufs Gas drücken.
Foto: Keystone
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Eigentlich hätte die Schweiz die Ziele längst erreicht

Was die Beamten allerdings nicht erwähnten: Pro-Kopf ist der Treibhausgas-Ausstoss bis 2019 um sage und schreibe 33 Prozent gesunken. Das geht aus Statistiken hervor, die das Bafu selbst erstellt hat. Jeder Einzelne von uns hat die Klimaziele also locker erreicht. Und damit wären wir eines der wenigen Länder überhaupt. Dazu zählt etwa Deutschland, allerdings mit nachgebesserten Zielen.

Ähnlich stellt sich die Situation beim Stromverbrauch dar. Dieser ist von 2001 bis 2019 zwar um fast 3,5 Terawattstunden (TWh) angestiegen. Doch wie beim Treibhausgas-Ausstoss auch: Der Pro-Kopf-Stromverbrauch ist von 2001 bis 2019 gesunken, und zwar um rund zehn Prozent. Jeder einzelne von uns braucht also deutlich weniger Strom. Auch Industrie oder Landwirtschaft verbrauchten etwa 1,2 TWh weniger.

Doch weil in nicht allzu ferner Zeit die Atomkraftwerke auslaufen und der Import von Strom schwieriger werden dürfte, stellt Sommaruga nun sogar in Aussicht, dass die Schweiz ein Gaskraftwerk bauen muss, um die Winter-Stromlücke zu schliessen. Das wiederum könnte mit seinem CO2-Ausstoss die Klimabilanz wieder verschlechtern.

Bevölkerungswachstum macht alle Bemühungen zunichte

Wie ist das möglich? Daten des Bundes sprechen eine deutliche Sprache: Zunichtegemacht werden all die Sparbemühungen durch das Bevölkerungswachstum – oder konkreter: die Zuwanderung. Allein seit dem Jahr 2000 ist die Bevölkerung in der Schweiz von 7,17 Millionen Menschen auf 8,67 Millionen im Jahr 2020 angewachsen. Das sind 21 Prozent.

Im europäischen Vergleich nimmt die Schweiz damit einen Spitzenplatz ein. So lag das Bevölkerungswachstum etwa in Grossbritannien (+14,2%) oder Frankreich (+10,3%) deutlich tiefer. Das rund zehnmal grössere Deutschland wuchs in absoluten Zahlen sogar nur um rund eine Million Personen – in der Schweiz waren es etwa 1,5 Millionen.

Land in Europa
(grösser als 7 Mio. Einw.)
Einwohner im Jahr 2000
(in Millionen)
Einwohner im Jahr 2020
(in Millionen)
Wachstum
Schweiz 7,17 8,67 +21,0%
Grossbritannien 58,9 67,3 +14,2%
Schweden 8,9 10,1 +14,0%
Spanien 40,9 46,5 +13,6%
Belgien 10,2 11,6 +13,0%
Frankreich 59,6 65,7 +10,3%
Österreich 8,1 8,8 +8,8%
Niederlande 15,9 17,2 +7,9%
Italien 57,3 59,1 +3,2%
Deutschland 81,5 82,5 +1,3%

Ohne dieses Wachstum würden wir heute dank der Pro-Kopf-Einsparungen etwa 10 TWh weniger Strom benötigen. Das hat ein Umweltwissenschaftler errechnet – und bei verschiedenen Parteien eingebracht. Seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen. Denn viele Politiker wollten nicht nur nichts davon wissen. Von einigen sei er gar diffamiert worden.

Daten sind Wasser auf die SVP-Mühlen

Einzig bei der SVP stösst das Thema auf offene Ohren. Wenig überraschend: Die Volkspartei hat sich nicht nur seit kurzem den Kampf gegen die drohende Stromlücke auf die Fahne geschrieben. Mit diesen Zahlen kann sie auch ihr Stammthema Zuwanderung wieder bewirtschaften.

«Die Schweiz macht pro Kopf enorme Fortschritte, aber das Bevölkerungswachstum macht alle Bemühungen zunichte», sagt denn auch SVP-Nationalrat Mike Egger (29). Das werde nun erstmals deutlich aufgezeigt. «Aber man will das nicht hören. Lieber hebt man weiter den Mahnfinger und versucht, weitere Verbote und Steuern einzuführen.»

Egger reicht in der am Montag gestarteten Frühlingssession gleich mehrere Vorstösse ein. So fordert er, dass die Verwaltung künftig alle Zahlen offenlegt. «Der erste Schritt zur Lösung wäre die Anerkennung des Problems.» Zudem soll der Bundesrat dazu aufgefordert werden, bei der EU auf eine Einschränkung der Personenfreizügigkeit hinzuwirken. Die Regierung solle sich «auf die Probleme, die die enorme Nettozuwanderung auf die Energieversorgung der Schweiz haben wird, berufen».

Zuwanderungsbeschränkung wäre keine Lösung

Wie entscheidend die Zuwanderung für die Schweiz allerdings ist, hat nicht zuletzt die Corona-Pandemie gezeigt. Ohne all die ausländischen Medizinerinnen und Pfleger wären deutlich mehr Menschen gestorben. Fürs Weltklima ist es zudem besser, wenn ein Deutscher in die Schweiz kommt: Denn Deutschlands Strommix besteht zu 40 Prozent aus CO2-Schleudern Kohle und Gas, während die Schweiz hier nahezu CO2-neutral unterwegs ist.

Sommarugas Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) winkt denn auch ab. Zwar wäre mit einer Beschränkung des Bevölkerungswachstums etwa der hiesige Energieverbrauch durchaus zu beschränken. Doch: «Ein solcher Eingriff wäre selbstredend mit drastischen ökonomischen und gesellschaftlichen Konsequenzen verbunden, die den vermeintlichen energiepolitischen Nutzen deutlich übertreffen dürften.»

Auch die Klimaziele sind wegen des Bevölkerungswachstums für die Schweiz kaum zu erreichen. Staaten, die weniger wachsen oder gar schrumpfen, haben es deutlich leichter. Trotzdem aber wird die Entwicklung von den Behörden nicht berücksichtigt.

Die Schweiz könne die Klima-Vorgaben gar nicht im Alleingang beeinflussen, betont das Uvek. Das wäre international auszuhandeln. Sommarugas Beamte betrachten das Bevölkerungswachstum aber ohnehin nicht als entscheidend: «Netto Null ist unabhängig von der Bevölkerungsgrösse Netto Null.»

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