Mit Bundesrat Ignazio Cassis auf Tour de Suisse
«Switzerland first werden Sie von mir nie hören»

Bundesrat Ignazio Cassis hat sich den Zusammenhalt der Landesteile auf die Fahnen geschrieben. SonnntagsBlick hat ihn drei Tage lang begleitet. Im Gespräch nimmt Cassis Stellung zum Deal seines Departements mit mit Tabak-Multi Philip Morris.
Publiziert: 03.08.2019 um 23:58 Uhr
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Aktualisiert: 04.08.2019 um 09:30 Uhr
Die Heimat im Blick: Diese Woche trat Ignazio Cassis in allen vier Landesteilen auf.
Foto: Philippe Rossier
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Simon Marti (Text) und Philippe Rossier (Fotos)

Der Aussenminister ruft, um den Lärm des Helikopters zu übertönen: «Sehen Sie die Berge, sehen Sie den Aletschgletscher dort? Ja? So prächtig sieht man das Panorama selten. Wissen Sie, eigentlich leben wir in einem Paradies!» Man möchte fast Mitleid mit Ignazio Cassis (58, FDP) empfinden, dass er von Amtes wegen sein Heimatland halt doch hin und wieder verlassen muss. Als er sein Heimatdorf Sessa TI überfliegt, wird Cassis’ Heimatbegeisterung noch ein Stück grösser. Rasch schickt er der Mutter ein SMS. In solchen Momenten wird klar: Der meint das ernst.

Vom Schulkommissionspräsidenten bis zur höchsten Schweizerin feiert am 1. August jeder und jede die helvetischen Eigenheiten. Kein Politiker, der da nicht die Schweiz, ihre Kantone, Sprachen und Kulturen lobt.

Bundesrat Cassis aber ist in dieser Disziplin kaum zu übertreffen. Aber ausserhalb des Hubschraubers schlägt er während seiner dreitägigen Reise keine lauten Töne an.

«Ich will einfach und klar reden»
Weder in Krauchthal BE noch auf der prächtigen Alp L’Etivaz VD, weder in seiner Heimat noch in Zuoz GR lässt er etwas von «Widerstand!» hören, wie so manche von der SVP, auch kein pflichtschuldiges Bekenntnis zur Eidgenossenschaft, wie manche Linke. Seine Rede handelt stets vom nationalen Zusammenhalt, als dessen «Schmied» er sich dem Land andient. Er erzählt nichts, was einen Zuhörer das Land in ­einem überraschenden Licht sehen liesse.

«Ich will einfach und klar reden», sagt Cassis. «Ich muss verstanden werden und keine Vorlesung halten.» Es habe eine Weile gedauert, bis seine Mitarbeiter im Departement für auswärtige Angelegenheiten das begriffen hätten. Insbesondere Diplomaten, so Cassis, seien eben geschult, mit vorsichtigen und allgemeinen Formulierungen zu operieren. Vor allem in angespannten Lagen sei das wichtig.

Sein Motto zum 1. August ist denn auch alles andere als poetisch: «1, 2, 3, 4!», ruft er dem Publikum zu. «Ein Land! Zwei Farben! Drei Tage unterwegs für den Nationalfeiertag! Vier Sprachen!» Wer könnte das bestreiten?

«Mehr als bisher auch Wirtschaftsinte­ressen fördern»
Dass der liberale Tessiner gerade drauf und dran ist, der Schweizer Aussenpolitik einen neuen Rahmen zu verpassen, schrumpft dabei zur Fabel.
Dabei hat eine von ihm selbst eingesetzte Arbeitsgruppe kurz vor den Sommerferien die «Aussenpolitische Vision 2028» publiziert, in denen es heisst, die Aussenpolitik solle «mehr als bisher auch Wirtschaftsinte­ressen fördern». Zu berechnend sei das Papier, zu kaltherzig, sagen Kritiker.

In Krauchthal klingt das bei Cassis dann so: «Wie sagt die Katze zu Alice im Wunderland? ‹Wenn du nicht weisst, wohin du willst, dann ist es egal, welchen Weg du einschlägst.›» Er aber möchte wissen, wohin das Land wolle. Dabei soll dieser Bericht helfen.

Nein, Cassis ist weder ins Emmental gereist noch nach Graubünden gefahren, um über Details zu debattieren. Dafür bleibt Zeit, einer Handvoll junger Schweizer zur Volljährigkeit zu gratulieren (in Krauchthal) oder sich über die Exportchancen von Schweizer Alpkäse zu erkundigen (in L’Etivaz). Die gehässigen Debatten über Rahmenabkommen oder Sponsoringgelder der Tabakindus­trie scheinen da ganz weit weg. Bei seiner Tour de Suisse sinnt er zwischen Tür und Angel über die Unterschiede rätoromanischer Dialekte nach. Oder übt den berndeutschen Namen ­eines Weilers. Gelingt es, strahlt der Magistrat. Gelingt es nicht, lacht er ebenfalls – ob vor Publikum oder im Kreise seiner Mitarbeiter.

«Gegen die Polarisierung von rechts und links»
Zur vollen Entfaltung kommt seine Volkstümlichkeit im Heimatkanton. Ganz Chiasso ist beim Besuch des Bundesrats am Donnerstagabend aus dem Häuschen. Das gleiche Bild bietet sich in Melide, wenige Stunden zuvor.
Als die kantonale FDP ihre Kandidaten für die eidgenössischen Wahlen vorstellt, wird aus dem Herrn Bundesrat vom Vorabend ruckzuck der Ignazio. L’Ignazio wird angefasst, l’Ignazio wird geküsst.

Der Zeitpunkt der Visite ist gut gewählt: Pünktlich zur Landung vollzieht sich im Tessin Historisches: Die Freisinnigen gehen für die Wahlen eine Listenverbindung mit der CVP ein. Konservative und Radikale, die sich noch Ende des 19. Jahrhunderts bis aufs Blut bekämpften, schliessen für einmal die Reihen.

«Das ist eben auch Zusammenhalt. Gegen die Polarisierung von rechts und links», prostet Cassis seinen Parteifreunden zu. Und der Bundesrat, der sich kurz zuvor noch die nationale Einigkeit auf die Schultern geladen hat, erklärt seine eigene politische Laufbahn zum Zufall. Er erinnere sich gut an seine Kandidatur für den Nationalrat. «Ich war bloss ein Listenfüller, jetzt bin ich im Bundesrat. Ja, so spielt das ­Leben.» Auch das könnte Ignazio Cassis ernst meinen.

Herr Bundesrat, drei Tage sind Sie unterwegs, halten Reden in allen vier Landessprachen. Warum tun Sie sich das an?
Ignazio Cassis:
Weil ich Einladungen aus allen vier Sprachregionen erhalten habe. Und da ich bei meiner Wahl in den Bundesrat betont hatte, dass ich den Zusammenhalt des Landes fördern will, fand ich es richtig, jetzt auch den konkreten Beweis zu erbringen.

Was nehmen Sie mit aus Ihrer Tour de Suisse?Zusammenhalt ist kein Luxus, er ist schlichte Notwendigkeit. Ohne gibt es keinen Wohlstand. Immer wieder tauchen Begehren auf, die Konflikte entfachen, so die wiederkehrende Forderung in der Deutschschweiz, Englisch als erste Fremdsprache zu unterrichten. Den Sprachfrieden und den Kulturfrieden müssen wir stets neu verteidigen.

Ist dieser Frieden gefährdet?
Am 1. August achten alle die Vielfalt, den Rest des Jahres schauen wir weg. Als Tessiner Bundesrat sehe ich es als meine Aufgabe, hier genau aufzupassen.

Sie haben in Ihren Reden auf die «Aussenpolitische Vision 2028» der von Ihnen eingesetzten Expertengruppe verwiesen. Diese fordern mehr Gewicht für die Wirtschaft. Wird das EDA zum Türöffner der Konzerne?
Das EDA war immer ein Türöffner! Für die Wirtschaft, aber auch für die Kultur oder die Entwicklungszusammenarbeit. Aber ja, der Bericht der Expertengruppe soll die Dinge beim Namen nennen. Für unsere Interessen müssen wir uns nicht schämen. Stabilität ist ein solches Interesse. Die Wirtschaft gehört selbstverständlich auch dazu.

Zeigt das Sponsoring von Philip Morris und einer US-Rüstungsfirma bei der Schweizer Botschaft in Washington nicht die Gefahren dieser Verquickung von Aussen- und Wirtschafts-politik?
Nein. Philip Morris ist nicht «die» Wirtschaft, sondern eine Firma aus einer Branche, die von vielen Seiten kritisiert wird. Das ist auch dem Zeitgeist geschuldet. Derzeit überarbeiten wir das Sponsoring-Reglement des EDA. Heute aber kann ich nicht einfach eine Branche pauschal ausschliessen.

Wenn alle Nationen stur auf ihre Belange fokussieren, dann bleibt ein Kleinstaat doch auf der ­Strecke.
Ich sage nicht, dass wir unsere Interessen zum Nachteil anderer verfolgen sollen. «Switzerland first» werden Sie von mir nie hören.

Der genannte Bericht moniert, dass die Landesregierung der Aussenpolitik zu wenig Zeit einräume. Wie wollen Sie das ändern?
Mein Wunsch ist, dass wir künftig in den Sitzungen nicht nur über aussenpolitische Aktualitäten diskutieren, sondern breiter werden und längerfristig denken. Darin unterstützt mich der Gesamtbundesrat.

Ursula von der Leyen übernimmt bald das Präsidium der EU-Kommission. Rechnen Sie mit Blick auf das Rahmenabkommen mit einer Entkrampfung?
Sie muss erst ihr Team zusammenstellen. Eine Einigung mit der aktuellen Kommission wäre ein Wunder. Wie Frau von der Leyen zum Abkommen steht, weiss ich nicht. Die Position der EU bleibt wohl gleich, aber der Ton könnte sich ändern. Und mit etwas Gelassenheit wird es auch einfacher, sich zu ­einigen.

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