Mittelstand wird höher belastet als Reiche
Wir zahlen bis zu drei Milliarden zu viel Steuern

Die sogenannte warme Progression führt dazu, dass wir alle zu viele Steuern zahlen – allein aufgrund der Tatsache, dass unser Wohlstand zunimmt. Andere Staaten gleichen das aus, doch in der Schweiz tut sich nichts.
Publiziert: 03.08.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 03.08.2023 um 11:13 Uhr
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Sermîn FakiPolitikchefin

Wir alle zahlen mehr Steuern, als wir müssten. Das hat die liberale Denkwerkstatt Avenir Suisse errechnet. Allein im Jahr 2020 hat uns der Bund ganze 800 Millionen Franken mehr abgeluchst, als ihm zustünde.

Pro Haushalt macht das – nur für die direkte Bundessteuer – 147 Franken aus. Aber warum nehmen wir das einfach hin? Weil wir uns dessen bislang nicht bewusst waren. Es ist schön verschleiert.

Wer mehr zahlen kann, soll mehr zahlen

Fangen wir von vorn an: Das Schweizer Steuersystem ist progressiv ausgestaltet. Das heisst, dass jemand, der 250'000 Franken im Jahr verdient, einen höheren Steuersatz hat als jemand, der nur 50'000 Franken Einkommen erzielt. Während also ein Geringverdiener nur wenige Prozent von seinem Lohn als Steuer entrichten muss, sind es bei einem Gutverdiener über zehn und beim Millionär gerne mal über 30 Prozent. Wer mehr Einkommen hat, soll einen höheren Anteil davon als Steuer zahlen.

Foto: KEYSTONE
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So weit, so gerecht. Es gibt jedoch einen versteckten Automatismus, der dafür sorgt, dass auch Geringverdiener und der Mittelstand einen höheren Anteil ihres Einkommens dem Staat abliefern müssen als eigentlich vorgesehen. Und zwar aufgrund des Wohlstandswachstums. Dieses Phänomen nennt sich «warme Progression».

Steuereinnahmen stiegen deutlich mehr als Löhne

Die hat damit zu tun, dass beim Wachstum einer Wirtschaft die Löhne steigen. So wie in der Schweiz: Zwischen 2010 und 2020 sind die Reallöhne um 8,4 Prozent gestiegen. Das würde eigentlich bedeuten, dass der Bund im Jahr 2020 auch 8,4 Prozent mehr Einkommenssteuer einnehmen sollte als 2010. Doch in Wahrheit waren es gemäss Rühli gut 16 Prozent – oder eben 800 Millionen Franken zu viel.

Dies, weil man durch einen höheren Lohn in einen höheren Steuertarif rutscht – obwohl man das gar nicht sollte. «Das System will eigentlich, dass nur jemand, der innerhalb des Lohngefüges aufsteigt, in eine höhere Tarifstufe kommt», sagt Lukas Rühli, einer der beiden Studienautoren von Avenir Suisse. «Doch bei der warmen Progression passiert das gar nicht: Wenn alle zwei Prozent mehr Lohn erhalten, ändert sich am Lohngefüge ja nichts. Darum müsste die warme Progression eigentlich ausgeglichen werden.»

Es geht um Milliarden

Das Potenzial ist gigantisch: Erstens betreffen die genannten 800 Millionen Franken nur die direkte Bundessteuer. Doch der gleiche Mechanismus spielt auch bei Kantons- und Gemeindesteuern. Rühli schätzt, dass sich die ungerechtfertigt eingenommenen Einkommenssteuern 2020 auf zwischen zwei und drei Milliarden summieren – von denen der Mittelstand im Übrigen mehr bezahlt als die Einkommensmillionäre, die ohnehin bereits beim Höchststeuersatz sind.

Kalte und warme Progression

Unter kalter Progression versteht man den teuerungsbedingten Anstieg des Steuertarifs. Der zu versteuernde Lohn steigt lediglich durch die Inflation. Der Steuerpflichtige hat zwar real nicht mehr Geld zur Verfügung, dennoch rutscht er in eine höhere Steuerklasse.

Um die kalte Progression zu kompensieren, werden die Steuertabellen jährlich an die Inflation, also an den Konsumentenpreisindex, angepasst.

Unter warmer Progression versteht man den Anstieg des Steuertarifs aufgrund von Produktivitätswachstum: Dadurch steigen die Reallöhne, diese werden entsprechend zu höheren Tarifen besteuert. Ein Haushalt, der beispielsweise unverändert in der Mitte der Einkommensverteilung liegt, muss im Lauf der Jahre einen immer grösseren Anteil seines Einkommens als Steuern abliefern.

Eine Korrektur wäre gemäss Avenir Suisse einfach: Um die warme Progression zu kompensieren, müssten die Steuertabellen an den Nominallohnindex angepasst werden. Diese Zahlen gibt es bereits, weil man ihn zur Anpassung der AHV-Renten an die Teuerung benötigt.

Unter kalter Progression versteht man den teuerungsbedingten Anstieg des Steuertarifs. Der zu versteuernde Lohn steigt lediglich durch die Inflation. Der Steuerpflichtige hat zwar real nicht mehr Geld zur Verfügung, dennoch rutscht er in eine höhere Steuerklasse.

Um die kalte Progression zu kompensieren, werden die Steuertabellen jährlich an die Inflation, also an den Konsumentenpreisindex, angepasst.

Unter warmer Progression versteht man den Anstieg des Steuertarifs aufgrund von Produktivitätswachstum: Dadurch steigen die Reallöhne, diese werden entsprechend zu höheren Tarifen besteuert. Ein Haushalt, der beispielsweise unverändert in der Mitte der Einkommensverteilung liegt, muss im Lauf der Jahre einen immer grösseren Anteil seines Einkommens als Steuern abliefern.

Eine Korrektur wäre gemäss Avenir Suisse einfach: Um die warme Progression zu kompensieren, müssten die Steuertabellen an den Nominallohnindex angepasst werden. Diese Zahlen gibt es bereits, weil man ihn zur Anpassung der AHV-Renten an die Teuerung benötigt.

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Zweitens wurde für diese Beiträge bloss der Reallohnanstieg der letzten zehn Jahre eingerechnet. Wächst unser Wohlstand weiter, werden sich die ungerechtfertigten Mehreinnahmen weiter erhöhen – auf Milliarden und Abermilliarden.

Skandinavier gleichen längst aus

Für Rühli ist klar: Die warme Progression muss ebenso wie ihre Schwester, die kalte Progression (siehe Box), ausgeglichen werden. Dass das alles andere als ein Luftschloss ist, zeigt sich daran, dass skandinavische Staaten wie Schweden, Dänemark und Norwegen die warme Progression schon seit 30 Jahren ausgleichen.

Doch in der Schweiz passiert nichts. «Mir ist jedenfalls kein Vorschlag untergekommen», so Rühli. Das wundert ihn kaum, denn der versteckte Automatismus komme der Politik ganz gelegen: «Mit den zusätzlichen Einnahmen lassen sich imagewirksam Steuerabzüge finanzieren oder Mehrausgaben budgetieren, ohne anderswo sparen zu müssen», sagt der Ökonom.

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