«Die Städter sehen den Wolf durch die rosarote Brille»
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Oberste Älplerin ist alarmiert
«Die Städter sehen den Wolf durch die rosarote Brille»

Am 27. September kommt das neue Jagdgesetz an die Urne. Die Präsidentin des Bündner Älpler-Vereins bittet um viele Ja-Stimmen. Denn sie fürchtet um ihre Kälber.
Publiziert: 29.08.2020 um 23:36 Uhr
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Aktualisiert: 09.11.2020 um 13:49 Uhr
Camille Kündig

«Becky? Esther? Sprinta, chlises ­Chälbli?» Sechs Uhr früh auf einer Alp im Bündner Safiental. Christa Buchli (45), eine kleine Frau mit kräftiger Stimme und rosa Wangen, steht im ­Pyjama vor ihrer ­Alphütte. Sie blickt mit dem Fernglas über die Weide vom Piz Tomül ­rüber zum Bruschghorn. Der schlaue Wolf hält hier alle in Atem. «Jeden Morgen, vor allem, wenn das Vieh arg fest glöcklet, frage ich mich: Hat er diese Nacht eines gerissen?»

Es ist eine abgeschiedene Welt, das Safiental. Über eine Stunde braucht man von Chur ins Berg­gebiet, obwohl das Postauto die enge Route im Eiltempo hochkurvt. Auf 1800 Höhenmetern sind es noch sechzig Minuten Marsch, bis man das Huhn neben Buchlis Sommerhütte gackern hört.

Ein paar Stunden später sitzt die Hirtin an ihrem Holztisch vor Kaffee und Vollmilch. Sie ist braun gebrannt, trägt eine Brille, oliv­farbene Shorts und Wanderschuhe. Ihr Hirtenstock lehnt an der Bank. Buchli hütet 160 Mutterkühe und Kälber. Sie kennt jedes Tier beim Namen. Es ist ihr achter Sommer auf der Alp, Ende 2019 wurde sie zur Präsidentin des Bündner Älp­lerInnen Vereins gewählt – weil es der grösste der Vereine ist, wirkt sie gewissermassen als oberste Älp­lerin der Schweiz.

«Jeden Morgen frage ich mich: Hat er diese Nacht eines meiner Tiere gerissen?», sagt Christa Buchli.
Foto: Thomas Meier
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«Der Job war nicht besonders ­begehrt», sagt sie in breitem Bündnerdeutsch, lacht und winkt ab: «Alle wussten, dass das Dossier, das auf uns zukommt, kein Spass sein würde.» Wenn die Alpsaison zu Ende geht, steht die Abstimmung übers neue Jagdgesetz an. Im Fokus steht der erleichterte Abschuss des Wolfs. Die Gegner sprechen von einem «Wolfabschuss­gesetz». Für Älpler ist das Grossraubtier schlicht der Feind.

Buchli: «Ich glaube, vielen ist nicht bewusst, was es heisst, wenn ein Vieh vom Wolf gerissen wird. Oft liegt es mit offenem Bauch stundenlang im Sterben! Die Städter sehen den Wolf durch die rosarote Brille – und wir sehen das brutale Ende.» Sie ist eine fröhliche Frau und will niemandem nahetreten – auch nicht dem politischen Gegner. Jetzt aber bebt die Stimme der Hirtin. «Für öi isch das wiit weg, mir müesse dermit lebe!»

Angst vor Wolfsmeldungen

Gesehen hat sie den Wolf zwar noch nie, auch den Kühen kam ­keiner zu nahe. Doch das sei nur eine Frage der Zeit. Buchli deutet in alle Himmelsrichtungen: «Wir sind umzingelt.» Knapp 50 Wölfe sind laut dem kantonalen Amt für Jagd und Fischerei in Graubünden unterwegs, die Hälfte Welpen. Durch die Surselva, zu der das ­Safiental gehört, streifen gleich mehrere Rudel. «Ich fürchte vor allem um meine Kälber», sagt Buchli, zückt ihr Smartphone und klickt das E-Mail-Postfach an: «Ich mag es gar nicht mehr öffnen. Fast jeden Tag erhalte ich eine Benachrichtigung über einen Angriff.»

Bei der Stutzalp bei Splügen wurde ein Mutterschaf gerissen, liest sie jetzt auf der Website des kantonalen Amtes, wo die Risse aufgelistet sind. Gut die Hälfte der Tiere sei durch Hunde oder Elektrozäune geschützt gewesen. «Geholfen hat es nichts», sagt Buchli.

Herdenschutz stellen sich viele einfach vor – das ist es aber nicht. Glaubt uns Hirten das!» Häufig erhält Buchli Anrufe von verzweifelten Kollegen. Manche seien psychisch am Limit. Sollte das neue Gesetz nicht angenommen werden, befürchtet sie Selbstjustiz: «Das wäre eine Katastrophe, Jesses Gott! Aber wenn es der Wolf fünf Mal auf die eigene Herde abgesehen hat, kommt bei einigen der Groll hoch.»
Viele Städter verstünden die Älpler nicht, sagt die Hirtin – sie fragten auch nicht nach. «Nüt hän miar gspürt vo dunna.»

Deshalb schrieb Buchli einen Brief nach Bern: «Haben Sie schon mal ein Wolfs­-rudel in der Nacht heulen gehört, Frau Bundespräsidentin? Ich schon.»

Skypen mit Sommaruga

Sozialdemokratin Simonetta Sommaruga, die in der Wolfsfrage gegen die Parteilinie argumentiert, vernahm den Hilferuf, die beiden Frauen skypen miteinander. Buchli war überrascht: «Sie hat uns ernst genommen, eine sehr nette Frau. Dabei ist die Umweltministerin ja in der SP. Wer hätte das gedacht!» Auf der Weide tätschelt Buchli ihrem Lieblingskalb den Rücken: «Gell, du wirst kein Wolfsfutter!»

Jährlich reissen Wölfe schweizweit 300 bis 500 Tiere. Gleichzeitig gingen letztes Jahr 217 287 Tonnen Fleisch für den Heimkonsum über den Ladentisch. Diese Gegenüberstellung macht Buchli perplex: «Das ist doch nicht das Gleiche!» Sie erzählt von Palma, einer Mutterkuh, die sie jahrelang hütete. «Ich mochte sie ganz besonders. Jeden Sommer betete ich, sie möge noch ein Jahr länger zu mir kommen dürfen. Irgendwann musste aber auch sie in die Metzgete – und der Bauer schenkte mir darauf ein paar Würste.»

Am kommenden Freitag wird Buchli in ihrem kleinen Auto die malerische Route nach Versam-Safien hinunterfahren, immer ­weiter – weg von dem Grossraubtier mit seinen gelben Augen und dem charakteris­tischen Geheul – bis nach Bern. Auf dem Bundesplatz ist eine Demonstration für das neue Jagdgesetz geplant. Zum letzten Mal «dunna» war sie vor zehn Jahren. «Die Städter haben am 27. September die Macht, über ­unsere Zukunft zu entscheiden. Ich hoffe, sie werden solidarisch mit uns sein.»

Präventiv-Abschuss

Das neue Jagdgesetz hat vor allem ein Ziel: den Schutz des Wolfes zu lockern. Neu soll er auch dann geschossen werden dürfen, wenn er noch keinen erheblichen Schaden angerichtet hat – also bereits präventiv, wenn noch kein Schaden entstanden ist. Und: Entscheiden über Leben und Tod des Raubtiers soll neu nicht mehr der Bund, sondern die Kantone. Damit wird auf die wachsende Anzahl von Wolfsrudeln in der Schweiz und die damit verbundenen Konflikte reagiert

Das neue Jagdgesetz hat vor allem ein Ziel: den Schutz des Wolfes zu lockern. Neu soll er auch dann geschossen werden dürfen, wenn er noch keinen erheblichen Schaden angerichtet hat – also bereits präventiv, wenn noch kein Schaden entstanden ist. Und: Entscheiden über Leben und Tod des Raubtiers soll neu nicht mehr der Bund, sondern die Kantone. Damit wird auf die wachsende Anzahl von Wolfsrudeln in der Schweiz und die damit verbundenen Konflikte reagiert

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Die Schweiz stimmt wieder ab: Erklärungen zu allen Initiativen, aktuelle News und prominente Stimmen zum Thema finden Sie hier.

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