«Ich hatte auf einen Schlag nichts mehr»
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Bäuerin Andrea Joss:«Ich hatte auf einen Schlag nichts mehr»

Politik will für Bäuerinnen wie Andrea Joss bessere soziale Absicherung
Nach der Scheidung stand sie vor dem Nichts

Kommts auf einem Bauernhof zur Scheidung, zieht die Frau meist den Kürzeren. Das musste die Aargauer Bäuerin Andrea Joss bitter erleben. Nun will die Politik den Bauersfrauen helfen.
Publiziert: 30.09.2021 um 01:20 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2021 um 09:55 Uhr
Lea Hartmann

Der Entscheid zu gehen hat Andrea Joss (50) viel gekostet. Zehn Jahre ist es her, dass sich die Bäuerin aus Magden im Aargauer Fricktal von ihrem Mann getrennt hat. «Ich stand praktisch vor dem Nichts», fasst sie ihre damalige Situation zusammen.

15 Jahre hatte Joss auf dem Bauernhof ihres Mannes mit angepackt, im Gebäude neben dem Rinderstall eine florierende Backstube aufgebaut. «Ich arbeitete 17 Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche.» Mit der Scheidung fiel nicht nur der Hof, sondern auch der Job weg – und damit ein Grossteil des Lebensinhalts der dreifachen Mutter.

Frau wird bei Scheidung benachteiligt

«Weil man als Bauersfrau als selbständig gilt, konnte ich nicht stempeln gehen», sagt Joss. Einen Lohn hatte sie über all die Jahre nie erhalten, alle Einnahmen investierte das Ehepaar in den Hof. Viel Geld, von dem sie nach der Scheidung kaum etwas sah. Als Ehefrau eines Bauern bekomme man bei einer Scheidung nicht wie sonst üblich die Hälfte des gemeinsam Erwirtschafteten zugesprochen, sondern einiges weniger, sagt Joss. Grund dafür ist das bäuerliche Bodenrecht, das denjenigen bevorzugt, dem der Betrieb gehört, um so den Weiterbestand des Hofs nicht zu gefährden.

Bäuerin Andrea Joss (50) aus Magden AG trennte sich vor rund zehn Jahren von ihrem damaligen Ehemann.
Foto: STEFAN BOHRER
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Joss machte nach der Scheidung eine Ausbildung zur Sachbearbeiterin Treuhand und liess sich zur Mediatorin weiterbilden. In dieser Funktion begleitet sie heute unter anderem auch Bäuerinnen und Bauern, die sich in einer ähnlichen Situation befinden wie sie einst.

Die meisten Bäuerinnen sind sozial kaum abgesichert

Denn Joss' Schicksal ist kein tragischer Einzelfall. Über ein Drittel aller in der Landwirtschaft Beschäftigten sind Frauen. 70 Prozent von ihnen arbeiten unentgeltlich auf dem Betrieb mit, der ihrem Mann gehört. Sie haben weder Pensionskasse noch eine eigene AHV. Wenn alles gut läuft, ist das kaum ein Problem. Doch wird die Frau krank oder hat sie einen Unfall, droht der Bauernfamilie die fehlende soziale Absicherung zum Verhängnis zu werden. Schwierig wirds auch bei einer Scheidung. Das haben Andrea Joss und ihre Familie erlebt.

«Dass mir bei einer Scheidung so wenig zusteht, war mir überhaupt nicht bewusst», sagt die Frau rückblickend. Joss ist inzwischen wieder zurück auf dem Hof, den sie 2011 im Zuge der Trennung verlassen musste. Ihr Ex-Mann ist vor zwei Jahren verstorben, woraufhin Joss und ihre Kinder nach Magden zurückkehrten. Sie ist Pächterin des Hofs, bis ihr Sohn ihn in einigen Jahren übernehmen kann.

Joss sagt, sie habe schon viele Bäuerinnen beraten, die vor einer Trennung standen. «Nach all dem, was ich erlebt habe, kann ich ihnen nicht sagen, dass sie keine Angst zu haben brauchen.» Einer Studie der Berner Fachhochschule zufolge sind Kampfscheidungen unter Bauern doppelt so häufig wie im Rest der Bevölkerung. Das häufigste Streitthema ist die Aufteilung des Vermögens.

Ständerat diskutiert Vorschläge

Die Bauernverbände lancieren im Oktober eine Kampagne, um Bäuerinnen und Bauern für das Thema zu sensibilisieren. Doch es soll auch politisch etwas passieren. Die Landesregierung und das Parlament wollen per Gesetz eine bessere soziale Absicherung der Bäuerinnen durchsetzen.

Einerseits sollen neu Direktzahlungen gekürzt werden, wenn kein angemessener Versicherungsschutz des Ehepartners besteht. Dieser Vorschlag war bereits Teil des Agrarpolitik-Pakets für die nächsten Jahre. Weil das Parlament dieses aber auf die lange Bank geschoben hat, haben FDP-Parlamentarierinnen das Thema separat vorangetrieben. Andererseits fordert ein Vorstoss die bessere finanzielle Entschädigung von Bäuerinnen und Bauern nach der Scheidung. Am Donnerstag entscheidet der Ständerat über die verschiedenen Vorstösse.

Der Schweizerische Bäuerinnen- und Landfrauenverband (SBLV) hofft auf Zustimmung. «Wir sagen schon seit längerem, dass Handlungsbedarf besteht», betont Präsidentin Anne Challandes (53). Bäuerinnen stünden heute bei einer Scheidung oftmals vor einem Dilemma: «Fordere ich das Geld, das mir zusteht, oder verzichte ich, um den Betrieb nicht in Gefahr zu bringen?»

Bauernverband ist inzwischen auch dafür

Die Vorschläge, die nun auf dem Tisch liegen, seien «ein Teil der Lösung», findet Challandes. Auch Bauernverbands-Präsident Markus Ritter (54) spricht sich, nachdem sein Verband erst noch dagegen war, inzwischen für die Annahme der Vorstösse aus.

Wie genau man das Problem aber angehen will, ist noch unklar. Mitte-Nationalrat Ritter wie auch Challandes sind gegenüber einigen der vorgeschlagenen Massnahmen skeptisch. Sie fürchten, dass bei allzu starren Regelungen der Weiterbestand der Bauernbetriebe gefährdet wäre. Doch Ritter sagt, man sei offen, darüber zu diskutieren.

Joss' Absicherung ist das Elternhaus

Skeptisch ist auch Bäuerin Andrea Joss. «Gerade auf kleinen Betrieben zahlen Bauern ihren Frauen keinen Lohn aus, weil sie es schlichtweg nicht vermögen.» Diese Höfe mit Direktzahlungskürzungen zu bestrafen, sei der falsche Weg. Wichtiger findet sie, dass mehr Aufklärung bei den Bäuerinnen und Bauern stattfindet und dass das Thema soziale Absicherung verstärkt in der Ausbildung von Landwirten zur Sprache kommt.

Joss selbst findet rückblickend, es sei ein Fehler gewesen, sich während der Ehe so gar nicht um das Thema gekümmert zu haben. «Ich habe Glück, dass meine Eltern ein Haus haben. Das ist meine Pensionskasse. Sonst hätte ich echt Angst und wüsste nicht, wie ich später einmal über die Runden kommen soll.»

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