Radikal-Vorschlag von CSS-Chefin Philomena Colatrella schockt Experten und Politiker
Wer kann sich Mindestfranchise von 10'000 Franken leisten?

CSS-Chefin Colatrella will das Krankenkassen-System auf den Kopf stellen. Sollen die Prämien sinken, müssten die Franchisen steigen. Auf bis zu 10'000 Franken. Eine radikale Forderung, die selbst bürgerliche Gesundheitspolitiker schockt.
Publiziert: 15.04.2018 um 23:44 Uhr
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Aktualisiert: 01.06.2019 um 11:54 Uhr
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Pascal Tischhauser, Julia Fritsche, Christian Kolbe

Die Chefin der CSS-Krankenkasse Philomena Colatrella (49) schlägt im SonntagsBlick eine Radikalkur vor, um die Prämien zu senken. Die Schmerzgrenze sei erreicht, sagt die gebürtige Italienerin. Sie fordert mehr Eigenverantwortung von allen im Gesundheitswesen.

Konkret will Colatrella die Mindestfranchise von heute 300 Franken auf 5000 oder gar 10'000 Franken erhöhen. Sie geht davon aus, dass die monatlichen Prämien dann um rund 170 Franken pro Person sinken würden.

Mit 10'000 Franken hätte das System keinen Sinn mehr

Für die oberste Patientenschützerin Susanne Hochuli (52) droht mit diesem Vorschlag das Ende des heutigen Kassensystems: «Wenn die Kosten für die soziale Abfederung nicht aus den Prämiengeldern bezahlt werden, löst sich ja der bisherige Zweck der Krankenversicherung auf», so die Aargauer alt Regierungsrätin. Diejenigen mit höheren Franchisen zahlten dann zusätzlich über Steuergelder auch an die Behandlungskosten der Menschen mit sozialer Abfederung.

CSS-Chefin Philomena Colatrella will die Mindestfranchise auf 10'000 Franken heraufsetzen. Das soll die Prämienexplosion stoppen.
Foto: Peter Mosimann
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Die Nationalrätin und SP-Vizepräsidentin Barbara Gysi (53) befürchtet noch mehr: «Es werden einmal mehr zusätzliche Lasten auf diejenigen abgeschoben, die eh schon in engen Verhältnissen leben.»

Selbst Bürgerliche sind skeptisch

Nicht einmal bei FDP-Nationalrätin Regine Sauter (51) kommen Colatrellas Vorschläge nur gut an. Sie selbst will eine Erhöhung der Mindestfranchise um 100 bis 200 Franken – mehr nicht. Darum sagt sie: «Gewisse Teile der Bevölkerung werden sich dieses Modell nicht leisten können», so die Zürcherin. Tatsächlich könnte sich eine derart massive Erhöhung fast niemand leisten.

Für all jene, bei denen das Geld nicht reicht, müsse die öffentliche Hand die Gesundheitskosten übernehmen. «Das stärkt die dringend nötige Eigenverantwortung nicht.» Deshalb lautet Sauters Fazit: «Ich bin sehr skeptisch, ob mit einer solch hohen Franchise das Hauptziel zu erreichen ist: nämlich eine Verringerung des Kostenwachstums.»

Und Heinz Brand (62) SVP-Nationalrat und Präsident des Krankenkassenverbands Santésuisse sagt klar: «Die Einführung einer Mindestfranchise von 5000 oder gar 10'000 Franken ist derzeit nicht realistisch. Damit würde wohl ein Volksaufstand provoziert.» Denn chronisch Kranke und weniger gut Verdienende würden sich massiv benachteiligt fühlen.

Brand fordert Wechsel zu Grossrisikoversicherung

«CSS-Chefin Colatrella hat aber recht, in Zukunft ist Eigenverantwortung einzufordern», will Brand die Tür nicht ganz zuschlagen. «Eine moderate Erhöhung der Mindestfranchise um einige Hundert Franken und die gleichzeitige Einführung von Wahlfranchisen von bis zu 5000 Franken hätten eine dämpfende Wirkung aufs Prämienwachstum.»

Längerfristig komme man nicht um Massnahmen herum, wie sie Colatrella nun anregt. So müsse man ernsthaft prüfen, Krankenkassen in den nächsten zehn bis 20 Jahren zu Grossrisikoversicherungen umzuwandeln. «Dabei wären etwa nur noch schwerwiegende und teure Herz-Kreislauf- sowie Krebserkrankungen versichert. Für die normalen Arztbesuche und herkömmliche Medikamente würden die Leute selbst aufkommen.»

Mit dem heutigen System seien die Prämien jedenfalls immer weniger bezahlbar. Eine Grossrisikoversicherung könnten sich die meisten Leute leisten. Auch wenn man für chronisch Kranke und Geringstverdiener eine Speziallösung finden müsse.

Jeder müsste Gesundheitskaution hinterlegen

Gleichzeitig mahnt Brand an, dass die Kassen bei so hohen Franchisen mehr Sicherheit bräuchten. Er regt ein Modell analog der gängigen Mietkaution an: «Wer eine Franchise von 5000 Franken hat, muss erst mal 5000 Franken auf ein Sperrkonto einzahlen», erklärt der Bündner. «Wie der Vermieter hat so auch die Krankenkasse mit einer Kaution die Sicherheit, notfalls das Geld zu bekommen.»

Wer heute bei seiner Kasse die Mindestfranchise von 300 Franken gewählt hat, muss jährliche Kosten für Arztrechnungen und Medikamente bis zu dieser Summe selbst bezahlen. Danach übernimmt die Kasse. Wer eine höhere Franchise wählt, wird von seiner Krankenkasse mit günstigeren Prämien belohnt.

Die Hälfte wählt die Mindestfranchise

Laut Bundesamt für Gesundheit (BAG) entschieden sich 2015 mit 44 Prozent fast die Hälfte aller Versicherten für eine 300er-Franchise. 14 Prozent wählten eine Franchise von 500 Franken. Die höchstmögliche Franchise nahmen 21 Prozent in Anspruch (siehe Grafik).

Oft ist es so, dass sich eine hohe Franchise leistet, wer viel verdient und gesund ist. Wer wenig Einkommen und gleichzeitig gesundheitliche Probleme hat, setzt eher auf eine tiefe Franchise. Die Prämien der ganz tiefen Einkommen werden staatlich vergünstigt.

Müssten also Prämienzahler bis zu 10'000 Franken ihrer Gesundheitskosten pro Jahr selber stemmen? Colatrella relativiert: «Das geht nur mit einer finanziellen Abfederung für die sozial Schwächeren.» Diese Abfederung könne aus dem Topf für Prämienverbilligungen finanziert werden. Durch die tieferen Monatsprämien hätten aber weniger Personen Anrecht auf eine Prämienverbilligung, folglich würden diese Mittel frei.

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