«Es ist wichtig, dass man daran erinnert»
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SIG-Präsident Ralph Lewin:«Es ist wichtig, dass man daran erinnert»

Ralph Lewin, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds
«In der Schweiz braucht es immer Druck von aussen»

Für die Opfer des Nazis soll in der Schweiz eine Erinnerungsstätte entstehen. Ralph Lewin, Präsident des Dachverbands der Schweizer Juden, hat sich dafür eingesetzt. Im Interview erklärt er, wieso es das Memorial braucht, es so spät kommt und wie es aussehen soll.
Publiziert: 13.05.2023 um 13:11 Uhr
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Aktualisiert: 14.05.2023 um 16:41 Uhr
«Die Vernichtung des jüdischen Volkes ist mit nichts vergleichbar»: Ralph Lewin.
Foto: STEFAN BOHRER

Es ist ein Erfolg für Ralph Lewin (69). Der Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) hat gemeinsam mit anderen Organisationen jahrelang dafür gekämpft, dass in der Schweiz ein nationales Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus entsteht. Vor zwei Wochen skizzierte der Bundesrat erstmals, wie eine solche Erinnerungsstätte aussehen – und wo sie stehen könnte. Als Ralph Lewin vor dem Bundeshaus für den Fotografen posiert, läuft gerade die Basler Ständerätin Eva Herzog vorbei. Als ehemaliger Basler Regierungsrat hat er immer noch beste Kontakte.

Wieso dauerte es 80 Jahre, bis in der Schweiz der Bau einer Gedenkstätte für Opfer des Nationalsozialismus beschlossen wird?
Ralph Lewin: Verdrängungsmechanismen haben in der Schweiz Tradition, gerade in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg: Die Flüchtlingspolitik, das Nazigold, der Handel mit geraubten Kunstwerken – überall brauchte es lange, bis sich die Schweiz an die Aufarbeitung machte. Und überall brauchte es Druck von aussen.

Wieso?
Die Schweiz stellt sich gern auf den Standpunkt: «Was haben wir damit zu tun? Die Täter waren ja andere.»

So soll das NS-Memorial aussehen

Die Pläne für ein Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus konkretisieren sich, wie der Bundesrat am 26. April bekannt gab. In der Stadt Bern soll ein zentraler Erinnerungsort entstehen. Dafür sprach der Bundesrat ein Budget von 2,5 Millionen Franken. Der genaue Standort soll bald bestimmt werden. Dazu plant der Bund im Rheintal in Zusammenarbeit mit dem Kanton St. Gallen und dem Jüdischen Museum Hohenems neue Angebote zur Vermittlung der historischen Ereignisse an der Landesgrenze. Genaueres ist dazu noch nicht bekannt. Im Memorial soll unter anderem den Schweizer Opfern gedacht werden. Zwischen 1933 und 1945 wurden mindestens 409 Schweizer Bürgerinnen und Bürger von den Nazis in einem KZ inhaftiert. Hinzu kommen mindestens 340 im KZ inhaftierte Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder, die in der Schweiz geboren wurden, hier aufwuchsen, aber nie die Schweizer Staatsbürgerschaft besassen. Doch es soll auch den Flüchtlingen gedacht werden, die zu Tausenden an der Schweizer Grenze zurückgewiesenen – und damit oft in den sicheren Tod geschickt wurden.

Die Pläne für ein Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus konkretisieren sich, wie der Bundesrat am 26. April bekannt gab. In der Stadt Bern soll ein zentraler Erinnerungsort entstehen. Dafür sprach der Bundesrat ein Budget von 2,5 Millionen Franken. Der genaue Standort soll bald bestimmt werden. Dazu plant der Bund im Rheintal in Zusammenarbeit mit dem Kanton St. Gallen und dem Jüdischen Museum Hohenems neue Angebote zur Vermittlung der historischen Ereignisse an der Landesgrenze. Genaueres ist dazu noch nicht bekannt. Im Memorial soll unter anderem den Schweizer Opfern gedacht werden. Zwischen 1933 und 1945 wurden mindestens 409 Schweizer Bürgerinnen und Bürger von den Nazis in einem KZ inhaftiert. Hinzu kommen mindestens 340 im KZ inhaftierte Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder, die in der Schweiz geboren wurden, hier aufwuchsen, aber nie die Schweizer Staatsbürgerschaft besassen. Doch es soll auch den Flüchtlingen gedacht werden, die zu Tausenden an der Schweizer Grenze zurückgewiesenen – und damit oft in den sicheren Tod geschickt wurden.

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Was ja auch stimmt.
Aber die Schweiz liegt mitten in Europa, die Geschichte zieht nicht an uns vorbei. Diese Erfahrung machen wir im Ukraine-Krieg ja gerade wieder.

Wo sehen Sie Parallelen?
Im Zweiten Weltkrieg war ein Teil der offiziellen Schweiz der Meinung, dass uns die Neutralität von der Pflicht entbindet, gegenüber Verfolgten Hilfe zu leisten. Heute hat sich in diesem Punkt sehr viel verbessert. Wenn man sieht, wie viele ukrainische Flüchtlinge mit offenen Armen aufgenommen wurden. In anderen Bereichen fallen wir dagegen in Verhaltensmuster aus der Vergangenheit.

Wo?
Das ist jetzt meine ganz persönliche Meinung: Es ist sehr schwer zu vermitteln, wieso wir gewissen Ländern den Wiederexport von Waffen in die Ukraine verbieten. Ich verstehe die Angst vor Eskalation. Das treibt uns alle um. Aber Putin muss gestoppt werden. Das lehrt uns die Geschichte.

Kann man den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichen?
Die geplante, systematische Vernichtung des jüdischen Volks ist mit nichts vergleichbar. Aber was wir im Zweiten Weltkrieg gelernt haben sollten: Zu lange zuschauen kann in den Abgrund führen. Im Jugoslawienkrieg zum Beispiel hat Europa viel zu lange gezögert, obwohl Hinweise auf einen Genozid vorlagen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sagten alle: «Nie wieder», aber das darf nicht bloss eine Floskel sein.

«Unsere Bemühungen zugunsten von Nicht-Ariern dürfen keinesfalls einen Umfang einnehmen, welcher in einem Missverhältnis zur Bedeutung, die den Israeliten in unserer Volksgemeinschaft zukommt, stehen würde.» Dieses Zitat stammt von Pierre Bonna, der während des Zweiten Weltkriegs Chef der Abteilung für Auswärtiges in der Schweizer Bundesverwaltung war. Zusammengefasst sagt er: Bei uns gibts fast keine Juden, also sollten wir uns auch nicht zu sehr für sie einsetzen.
Das zeigt, wie stark judenfeindliche Strömungen in der Schweiz waren. Für die jüdischen Flüchtlinge, die wir aufnahmen, mussten finanziell dann auch noch die Schweizer Juden aufkommen. Auch dieses Muster wiederholte sich später.

«Zu lange zuschauen kann in den Abgrund führen»: Ralph Lewin auf der Bundesterrasse in Bern.
Foto: STEFAN BOHRER

Was meinen Sie damit?
Man fand ja auch lange, die jüdischen Gemeinden müssten selber für ihre Sicherheit aufkommen, obwohl sie eine Minderheit sind, die besondere Schutzbedürfnisse hat.

Wie ist die Beziehung zwischen den Schweizer Juden und den Behörden heute?
Grundsätzlich sehr gut. Wir als SIG haben gute Kontakte zu verschiedenen Stellen des Bundes und können unsere Anliegen ohne Probleme vorbringen. Das heisst noch nicht, dass man uns alle Wünsche erfüllt. Aber schon, dass es für dieses Memorial einen einstimmigen Beschluss des Parlaments gab, der von SVP bis SP mitgetragen wurde, zeigt, wie viel sich getan hat.

Klar ist zum Projekt bisher Folgendes: In Bern soll ein Denkmal stehen. Budget: 2,5 Millionen Franken. Dazu soll es einen Ort der Wissensvermittlung in der Ostschweiz beim sankt-gallischen Diepoldsau geben. Budget: unklar. So weit, so unkonkret. Sind Sie wirklich zufrieden damit?
(Lächelt) Es ist ein wichtiger Teilerfolg. In meinem «Business» muss man sich auch über Teilerfolge freuen. Wir haben nun einen Standort in Bern, der genaue Ort soll bald kommuniziert werden. Was man mit 2,5 Millionen genau bauen kann und ob das ausreicht, werden wir sehen.

Präsident des Dachverbands der Schweizer Juden

Ralph Lewin ist seit Oktober 2020 Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), des Dachverbands der Schweizer Juden. Zuvor war er in Politik und Wirtschaft tätig, von 1997 bis 2008 als Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt, von 2010 bis 2017 als Verwaltungsratspräsident der damaligen Bank Coop. Lewin ist Mitglied der SP. Er ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Basel.

Ralph Lewin ist seit Oktober 2020 Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), des Dachverbands der Schweizer Juden. Zuvor war er in Politik und Wirtschaft tätig, von 1997 bis 2008 als Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt, von 2010 bis 2017 als Verwaltungsratspräsident der damaligen Bank Coop. Lewin ist Mitglied der SP. Er ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Basel.

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Was wünschen Sie sich denn für ein Denkmal?
Eines, das ins Auge sticht. Das zum Nachdenken anregt. Aber dabei darf es nicht bleiben. Auch am Standort in Bern muss Vermittlung eine Rolle spielen. Konkret: Schulklassen aus der ganzen Schweiz müssen hier einen Ort besuchen können, wo sie etwas über die Opfer des Nationalsozialismus und die Bezüge zur Schweiz erfahren.

Der einmalige Betrag von 2,5 Millionen Franken wird dafür kaum ausreichen.
In anderen Ländern wurden deutlich umfangreichere Projekte umgesetzt. So etwas verlangen wir nicht. Verstehen Sie mich bitte richtig: Die Idee eines Vermittlungsorts in der Ostschweiz ist gut – und wir sind sehr froh, will sich der Kanton St. Gallen daran finanziell beteiligen. Aber der Bund wird nicht drum herumkommen, jährliche Mittel zu sprechen – sonst kann man keinen qualitativ hochstehenden Vermittlungsort betreiben. Weder in der Ostschweiz noch in Bern.

Was würden Sie sagen, wenn man den SIG um Hilfe bei der Finanzierung bitten würde?
Ich hoffe nicht, dass man die Vertreter der Opfer nun auch noch ihre eigene Erinnerungsstätte bezahlen lässt. Da ist man sicher gescheiter worden.

Es gibt Involvierte, die durchaus fürchten, dass es beim Bund noch zu einem Hickhack kommen könnte, in Bezug auf die Umsetzung des Memorials.
Ich denke nicht. Ich hoffe sehr, dass sich alle Stellen auf eine gute Zusammenarbeit verständigen.

Bis jetzt wird das Projekt vor allem vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten, dem EDA, gefördert. Wieso?
Können Sie mich nichts Einfacheres fragen? (Lacht) Es stimmt, beim EDA gibt es viel Engagement. Das hat auch personelle Gründe. Namentlich Simon Geissbühler, Chef der Abteilung Frieden und Menschenrechte im EDA, hat sehr viel für dieses Memorial getan. Ihn interessiert das Thema. Er hat ein Buch über Nationalsozialismus in Rumänien geschrieben. Die Grossmutter meiner Frau wurde in Rumänien umgebracht. Deshalb berührt mich das sehr.

Ralph Lewin wünscht sich von gewissen Behörden mehr Engagement beim NS-Denkmal.
Foto: STEFAN BOHRER

Anders gefragt: Wieso ist das Innendepartement nicht beteiligt?
Wir sind im Gespräch mit den entsprechenden Stellen. Nur so viel: Die Vermittlungskompetenz ist beim Bund dort gebündelt, wo von Haus aus Kulturstätten betrieben werden. Das heisst beim Bundesamt für Kultur, das zum Eidgenössischen Departement des Innern gehört. Ich hoffe sehr, dass wir in Zukunft hier ein deutliches Engagement sehen.

Wann wurden Sie zum letzten Mal antisemitisch beschimpft?
Seit ich SIG-Präsident bin, habe ich zwei sehr heftige Briefe erhalten, die ich aufbewahrt habe. Anonym. In einem stand, Juden würden allen Impfstoff aufkaufen. Im anderen wird Israels Politik mit den Nazis verglichen. Er endet damit, dass man mir die Zunge abschneiden soll.

Was machte das mit Ihnen?
Das fährt ein. Und dann fragt man sich, was in diesen Menschen vorgeht …

Sind diese Briefe symptomatisch für den Antisemitismus in der Schweiz?
Vielleicht, ja. Es gibt bei uns zum Glück sehr wenig gewalttätigen Antisemitismus, also kaum Körperverletzungen. Ganz im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern. Was man aber sagen muss: Es gibt sehr viele unbedachte Bemerkungen aus der Mitte der Gesellschaft. Alle Juden sind reich, alle Juden sind machthungrig.

Woher kommt das?
Umfragen zeigen klar: Es gibt Hunderttausende bis über eine Million Menschen, die in der Schweiz antisemitische Ressentiments haben. Das ist ein ziemlich grosses Reservoir an schlummerndem Antisemitismus.

Wann bricht er hervor?
Es gibt viele Trigger. Die Pandemie war einer. Der Nahostkonflikt ist einer. Selbstverständlich darf man Israel kritisieren, aber nicht auf eine Art und Weise, wie man es bei anderen Ländern nie tun würde.

In seinem Job könne man nichts abhaken, sagt Ralph Lewin im Interview.
Foto: STEFAN BOHRER

Wie wichtig ist es, dass in der Schweiz bald Nazisymbole verboten sein sollen?
Es war ein grosser Schritt, dass die Motion Binder im Parlament angenommen wurde, die Nazisymbole immer und jederzeit verbieten will. Der Bundesrat war da ja leider dagegen, was ich äusserst unverständlich fand. Aber immerhin gab er danach einen Bericht in Auftrag, der aufzeigte, dass ein Verbot «machbar» ist.

Wie soll das Verbot umgesetzt werden?
Wir wollen, dass man jetzt mal mit den allseits bekannten Symbolen anfängt – und nicht über jedes einzelne Nazizeichen diskutiert. Sonst geht es wieder ewig, bis das Gesetz in Kraft tritt.

Also auch in dieser Frage ist der Mist noch nicht geführt.
Ich bin seit bald drei Jahren im Amt und habe eines gelernt: Man kann nichts abhaken. Alles braucht einen langen Atem. Aber vergessen wir nicht: Das Memorial und das Verbot von Nazisymbolen sind zwei grosse Schritte, die wir in den letzten Wochen vorwärtsgemacht haben.

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