Riesiges Datenleck in Zürich
Sogar psychiatrische Gutachten landeten im Milieu

Die Zürcher Justizdirektion hat mutmasslich über Jahre bei der Entsorgung von Computern geschlampt. Festplatten mit unverschlüsselten, höchst sensiblen Daten gelangten ins Zürcher Milieu. Ginge es nach den Behörden, sollte die Öffentlichkeit davon nichts erfahren.
Publiziert: 01.12.2022 um 21:35 Uhr
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Aktualisiert: 06.12.2022 um 14:01 Uhr

Es ist der Albtraum eines Justizbeamten. Vertrauliche, hochsensible Informationen über ihn, über Opfer von Straftaten oder jene, gegen die er ermittelt, gelangen nach aussen. Im schlimmsten Fall in die Hände dubioser Gestalten, die – wenn der Albtraum ganz böse endet – ihn dann mit diesen Informationen zu erpressen versuchen.

Für die Zürcher Staatsanwälte und Polizisten ist der Albtraum Wirklichkeit geworden. Und schuld am Daten-GAU ist ihre eigene Behörde: die Zürcher Justizdirektion.

Psychiatrische Gutachten und Privatadressen

Über Jahre hat die Direktion alte Server und Computer ihrer Mitarbeitenden zur Entsorgung freigegeben, auf deren Festplatten sich teils unverschlüsselte Daten befanden. Darunter Verzeichnisse mit Handynummern von Kantonspolizisten, Privatadressen von Mitarbeitenden, Gebäudepläne, ja sogar psychiatrische Gutachten von Angeklagten. Das geht aus Unterlagen hervor, die Blick vorliegen. Diese Daten gelangten zu Roland Gisler (58), einem mehrfach vorbestraften Mann aus dem Zürcher Milieu. Ihm gehört die Bar Neugasshof, die seit Jahrzehnten im Fokus der Polizei steht.

Die Strafverfolgungsbehörden stellten zig Festplatten der Zürcher Justizdirektion beim vorbestraften Roland Gisler sicher.
Foto: ZVG
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Die Zürcher Behörden wissen seit zwei Jahren vom selbst verschuldeten Datenskandal. Der Öffentlichkeit haben sie ihn bisher verschwiegen. Wie Blick-Recherchen zeigen, wurde 2020 eine Administrativuntersuchung eingeleitet, die inzwischen abgeschlossen ist. Weder über deren Durchführung noch über ihr Ergebnis hat die Justizdirektion informiert – und die Behörde weigert sich trotz Öffentlichkeitsgesetz, den Abschlussbericht herauszugeben. Selbst die Geschäftsprüfungskommission des Kantonsrats (GPK) hat ihn gemäss Blick-Informationen bisher nicht erhalten.

Fehr spielt Skandal herunter

Die zuständige Regierungsrätin Jacqueline Fehr (59, SP) spielt die Angelegenheit gegenüber der GPK des Zürcher Kantonsrats derweil herunter.

Bei der Kommission schrillten die Alarmglocken, nachdem Milieu-Anwalt und SVP-Kantonsrat Valentin Landmann (72) gemeinsam mit weiteren SVPlern am Montag eine Anfrage zum Skandal im Kantonsparlament eingereicht hatte. Dass Landmann von der Sache weiss, liegt daran, dass er selbst in den Fall verwickelt ist. Er ist der Anwalt Gislers.

Gisler ist über seinen Bruder André Gisler (57) an die Festplatten und USB-Sticks der Justizdirektion gelangt. Dieser war ungefähr ab 2000 bis 2014 für die Direktion tätig. Vorsteher der Justizdirektion waren in diesem Zeitraum SP-Parteikollege Markus Notter (62) und später Grünen-Regierungsrat Martin Graf (68). Laut einem IT-Verantwortlichen wurden die Festplatten «immer fachgerecht entsorgt respektive vernichtet», wie er in einem internen Memo beteuerte.

Festplatten lagerten in Holzkiste im Garten

Aussagen von André Gisler und einem ehemaligen Mitarbeitenden lassen daran stark zweifeln.

Der Deal, wie ihn André Gisler in der Einvernahme der Staatsanwaltschaft schildert: Er holte die ausgemusterten Computer, Drucker, Server und andere Geräte bei der Justizdirektion ab und durfte sie als Gegenleistung nach Löschung der sich darauf befindenden Daten weiterverkaufen. Wie er sagt, existierte weder ein Arbeitsvertrag, geschweige denn hätte er je schriftlich bestätigen müssen, die Daten ordnungsgemäss gelöscht zu haben. Die Rede ist von Tausenden Computern, die in den Besitz des Mannes gelangten.

Ein Teil der Festplatten und Sticks gelangte zu seinem Bruder Roland Gisler. Sie lagerten hinter seinem Haus in einer grossen Holzkiste. Beim Durchschauen der Harddisks habe er darauf zig unverschlüsselte Dokumente gefunden, erzählt er. Darunter angeblich auch Einvernahmen sowie Gutachten, die der bekannte forensische Psychiater Frank Urbaniok (60) verfasst habe. Dieser sagt auf Anfrage, sollte das stimmen, sei er nie darüber informiert worden.

Erst vor zwei Jahren flog das Leck auf

Die Zürcher Justiz bekam erst vor zwei Jahren Wind davon, wo ihre Daten gelandet sind. Wie aus Einvernahmeprotokollen hervorgeht, soll sich der ehemalige Mitarbeiter André Gislers zwar schon 2013 an die Behörden gewandt haben, und zwar ans Büro des Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (Edöb). Er soll diesem mehrere unverschlüsselte Dokumente der Militärjustiz geschickt haben. Doch daraufhin ist seiner Aussage zufolge nichts geschehen. Er habe nie eine Antwort auf sein Mail bekommen, sagte er.

Erst als Anfang November 2020 plötzlich eine Frau an der Privatadresse eines Staatsanwalts auftauchte (siehe Box), leitete die Justiz Ermittlungen ein. Knapp eine Woche später wurde Roland Gisler festgenommen. Er blieb acht Monate in U-Haft. Gegen ihn läuft ein Strafverfahren wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, wie die Staatsanwaltschaft Zürich bestätigt.

Staatsanwalt vor eigener Haustüre belästigt

Die Zürcher Justizdirektion spielt die Brisanz des Datenlecks in der eigenen Behörde herunter – mit Verweis darauf, wie lange das Ganze schon her sei. Doch Fakt ist: Erst vor zwei Jahren hat sie selbst davon erfahren. Wie, geht aus einem Mail von Staatsanwalt Beat D.* von der Abteilung Strassenverkehr an den damals leitenden Oberstaatsanwalt Beat Oppliger hervor.

Demnach habe es am 8. November 2020 kurz vor 20 Uhr bei D. zu Hause an der Tür geklingelt. Eine Frau mit drei Kindern sei vor seiner Haustüre gestanden. Sie habe ihn gebeten, beim Arbeitgeber ihres Sohns, gegen den zu diesem Zeitpunkt ein Strafverfahren lief, ein gutes Wort einzulegen.

D. war perplex. «Meine Telefonnummer und meine Autokontrollschilder sind gesperrt. Es sollte also nicht möglich sein, einfach so meine Privatadresse herauszufinden», schrieb er dem Oberstaatsanwalt.

Der Ermittler fand heraus, dass die Frau die Adresse von Roland Gisler bekommen hatte. D. sprach mit diesem – und war alarmiert. «Falls die Geschichte stimmt, wie Roland Gisler zu meiner Adresse kam, gibt es ein grösseres Problem.»

In der späteren Zeugeneinvernahme sagt D., er sei «völlig schockiert» gewesen. Für ihn sei klar gewesen, dass sich jemand nicht bloss unbefugt Zutritt zu seinem Computer verschafft habe. Seine Privatadresse sei da nirgends gespeichert. «Mir wurde klar, dass das Ganze eine grössere Dimension haben muss.» Eine Vorahnung, die sich schon bald bestätigen sollte.

* Name der Redaktion bekannt

Die Zürcher Justizdirektion spielt die Brisanz des Datenlecks in der eigenen Behörde herunter – mit Verweis darauf, wie lange das Ganze schon her sei. Doch Fakt ist: Erst vor zwei Jahren hat sie selbst davon erfahren. Wie, geht aus einem Mail von Staatsanwalt Beat D.* von der Abteilung Strassenverkehr an den damals leitenden Oberstaatsanwalt Beat Oppliger hervor.

Demnach habe es am 8. November 2020 kurz vor 20 Uhr bei D. zu Hause an der Tür geklingelt. Eine Frau mit drei Kindern sei vor seiner Haustüre gestanden. Sie habe ihn gebeten, beim Arbeitgeber ihres Sohns, gegen den zu diesem Zeitpunkt ein Strafverfahren lief, ein gutes Wort einzulegen.

D. war perplex. «Meine Telefonnummer und meine Autokontrollschilder sind gesperrt. Es sollte also nicht möglich sein, einfach so meine Privatadresse herauszufinden», schrieb er dem Oberstaatsanwalt.

Der Ermittler fand heraus, dass die Frau die Adresse von Roland Gisler bekommen hatte. D. sprach mit diesem – und war alarmiert. «Falls die Geschichte stimmt, wie Roland Gisler zu meiner Adresse kam, gibt es ein grösseres Problem.»

In der späteren Zeugeneinvernahme sagt D., er sei «völlig schockiert» gewesen. Für ihn sei klar gewesen, dass sich jemand nicht bloss unbefugt Zutritt zu seinem Computer verschafft habe. Seine Privatadresse sei da nirgends gespeichert. «Mir wurde klar, dass das Ganze eine grössere Dimension haben muss.» Eine Vorahnung, die sich schon bald bestätigen sollte.

* Name der Redaktion bekannt

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Gisler wird unter anderem vorgeworfen, dass er versucht habe, mit den Daten die Zürcher Justiz zu erpressen und zu beeinflussen. Der Milieu-Beizer ist vor kurzem unter anderem wegen Drogenhandel und illegalen Waffenbesitzes zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Er zog das Urteil ans Bundesgericht weiter, weil er es als Racheaktion der Zürcher Behörden wegen des Datenskandals ansieht.

Risiko Erpressungsversuch

Die Affäre zeigt, welches Risiko das Datenleck birgt. Weitere Erpressungsversuche sind nicht ausgeschlossen. Schliesslich ist unklar, wer alles inzwischen über Festplatten verfügt, auf denen sich noch unverschlüsselte Daten der Zürcher Justiz befinden. Gemäss den Akten gab Gisler mehreren Personen Dokumente weiter.

Dass mit Roland Gisler eine Person ausserhalb der Behörde über «heikle Daten der Justizdirektion verfügt», stand für den zuständigen Staatsanwalt schon nach einer ersten Sichtung der beschlagnahmten Festplatten fest. Das schrieb er im Februar 2021 in einem Schreiben ans Obergericht.

Längst bekannt? Von wegen!

Heute tun die Behörden gegenüber der Öffentlichkeit alles, um den Skandal zu relativieren. Eine erste Blick-Anfrage wimmelte der Sprecher der Justizdirektion mit der Behauptung ab, dass dieser Fall «längst bekannt sei». Das stimmt nicht. Dann stellte man die Angelegenheit als kalten Kaffee dar. Seit 2013 würden Datenträger «professionell zertifiziert» entsorgt. Dieser Prozess sei «unabhängig vom Vorfall 2008» installiert worden, sagt Mediensprecher Benjamin Tommer. Er – wie auch Regierungsrätin Fehr gegenüber der GPK – behaupten, dass 2008 Schluss war mit dem Datenleck. Doch Blick wie auch SVP-Kantonsrat Landmann liegen Unterlagen vor, die von 2001 bis 2012 datiert sind.

Die Staatsanwaltschaft teilt nun ausserdem mit, dass sich nur «einige wenige Daten der Justizdirektion» auf den im Zusammenhang mit dem Strafverfahren gegen Gisler sichergestellten Datenträgern befunden hätten. Das dürfte eine grobe Untertreibung sein. Blick hatte Einsicht in über 30 Dokumente, über zehn enthalten mutmasslich heikle, teilweise sehr heikle Daten.

Justizdirektion lässt Fragen offen

Blick wollte von der Justizdirektion wissen, wie es dazu kommen konnte, dass vertrauliche Unterlagen im Zürcher Milieu landeten. Gab es tatsächlich keine schriftliche Vereinbarung mit der Firma, denen man Geräte mit hochsensible Daten darauf anvertraute? Wie viele Festplatten mit möglicherweise heiklen Informationen sind mutmasslich noch immer im Umlauf? Und: Welche Konsequenzen hatte die Administrativuntersuchung, die dazu in Auftrag gegeben worden war?

Das alles bleibt offen. Die Fragen seien «ausnahmslos Gegenstand der Strafuntersuchung», teilt die Justizdirektion auf Anfrage lediglich mit. Die Antworten kenne man nicht und könne die Fragen deshalb nicht beantworten.

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