«Migrationsbevölkerung soll nicht in Opferrolle fallen»
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Nationalrat Atici erklärt:«Migrationsbevölkerung soll nicht in Opferrolle fallen»

SP-Nationalrat Mustafa Atici
Der Kebabpionier, der Bundesrat werden will

Eigentlich wollte Mustafa Atici nur fürs Studium in die Schweiz. Doch der Kurde blieb – und baute hier nicht nur ein Unternehmen auf, sondern machte auch Polit-Karriere. Er fordert die Migranten auf: Mischt euch mehr ein!
Publiziert: 18.09.2023 um 00:20 Uhr
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Aktualisiert: 18.09.2023 um 10:31 Uhr
Lea Hartmann und Stefan Bohrer

Als der FC Basel an diesem Sonntagnachmittag in der 96. Minute zum 2:2 ausgleicht, ist der Tag für Mustafa Atici (53) gerettet. Das Bier fliesst, das Geschäft brummt – auch dank des prächtigen Wetters. Anders als die Nachfrage nach Kebab, die sich relativ gut planen lässt, hängt der Bierkonsum ganz davon ab, wies der Mannschaft auf dem Rasen läuft. «Liegt der FCB vorne, verkaufen wir viel mehr – und es gibt weniger Reklamationen», sagt Atici.

Mustafa Atici verkauft seit Eröffnung des Stadions 2001 im Joggeli Kebab. Ebenso lange ist der gebürtige Kurde in der SP aktiv. Erst im SP-Quartierverein, dann lange Grossrat und Vizepräsident der Kantonalpartei, schaffte Atici 2019 – im vierten Anlauf – den Sprung in den Nationalrat. Während Migranten schweizweit in der Politik deutlich untervertreten sind, stellt der kleine Kanton Basel-Stadt mit Atici und der Grünen Sibel Arslan (43) derzeit gleich zwei Nationalräte, die in der Türkei geboren und aufgewachsen sind.

Kandidatur mit Hintergedanken

Und nun will Kebab-Unternehmer Atici Bundesrat werden. Der SP-Nationalrat war der Erste, der nach der Rücktrittsankündigung von Alain Berset (51) seinen Hut in den Ring warf. Es sei Zeit für einen Bundesrat mit Migrationshintergrund, begründete er sein Vorpreschen.

Mustafa Atici steht an jedem Spieltag des FC Basel im Stadion und verkauft Kebab, Brezeln, Bier und Wurst.
Foto: STEFAN BOHRER
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Atici ist Realist genug, um genau zu wissen, dass er als absoluter Aussenseiter ins Rennen geht. Er verhehlt nicht, dass er die Kandidatur lanciert hat, um Aufmerksamkeit für seine Anliegen zu gewinnen – das ist nicht nur die politische Mitwirkung von Migranten, sondern insbesondere auch die Bildungspolitik. Und natürlich erhofft sich Atici, dass ihm die Kandidatur bei der Wiederwahl in den Nationalrat hilft. Die Basler SP muss zittern, weil der Kanton Basel-Stadt wegen der schrumpfenden Bevölkerungszahl einen der bislang fünf Nationalratssitze an Zürich abtreten muss.

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Die verhasste Opferrolle

An diesem strahlenden Fussballsonntag mag FCB-Fan Atici – dessen Frau und beide Söhne (18 und 23) an Spieltagen ebenfalls im Stadion arbeiten – aber nicht über eine drohende Abwahl grübeln. Der Fokus aufs Negative, der ist im sowieso zuwider. Das gilt ganz besonders, wenns um seine Erfahrungen als Migrant geht. Er hasse es, «die Opferrolle zu spielen», sagt Atici. Ein Satz, den jeder zu hören bekommt, der mit ihm über seine Migrationsgeschichte spricht.

Atici sprach kein Wort Deutsch, als er Anfang der 90er-Jahre als 23-Jähriger fürs Studium nach Basel kam, wo schon mehrere seiner acht Geschwister lebten. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und hängte dann einen Master in Europäischen Studien an.

Der ursprüngliche Plan, nach dem Studium für eine akademische Karriere in die Türkei zurückzukehren, war rasch vergessen. Stattdessen eröffnete er 1996 die erste Kebabbude Basels. Eine Reise nach London, wo er solche Läden gesehen hatte, hatte Atici auf die Idee gebracht. Heute ist er nicht nur Betreiber mehrere Imbissstände im Basler Fussballstadion, sondern auch Berater für einen Lebensmittelgrossisten.

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«Wir müssen uns einmischen!»
Mustafa Atici, SP-Nationalrat
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Aticis berufliche wie auch politische Karriere zeugen von Beharrlichkeit und Fleiss. Er will etwas erreichen. Nicht nur für sich, sondern gerade für jene, die im Leben weniger Chancen bekommen haben als er. Und diese Haltung, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, erwartet er auch von anderen Migranten.

«Wir dürfen Migranten nicht nur fördern, wir müssen sie auch fordern», findet er. Dass so wenige Menschen mit Migrationshintergrund in der Politik seien, dafür seien diese selbst mitverantwortlich. «Wir müssen uns einmischen!»

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