SP-Spitzenpolitikerin Ursula Wyss über berufstätige Mütter
«Frauen müssen sich immer noch erklären!»

Sie will Berner Stadtpräsidentin werden. Anders als ihre Konkurrenten muss sich Ursula Wyss rechtfertigen, wenn sie Amt und Familie unter einen Hut bringen will. Familie und Beruf zugleich – auch in der Schweiz des 21. Jahrhunderts keine Selbstverständlichkeit.
Publiziert: 02.06.2016 um 14:04 Uhr
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Aktualisiert: 24.10.2018 um 11:31 Uhr
Kandidatin für das Berner Stadpräsidium: Ursula Wyss mit Sohn Lyonel am Freitag auf dem Münster der Bundesstadt.
Foto: Peter Gerber
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Marcel Odermatt und Simon Marti

Wie familienfreundlich ist die Schweiz? Anfang Woche haben 140 Verbände und Vereine eine Volksinitiative für einen bezahlten Vaterschaftsurlaub von vier Wochen lanciert. Doch es gibt viel zu tun: Noch immer ist es für Eltern hierzulande eine Herausforderung, Kinder und Job unter einen Hut zu bringen.

SP-Parteivize Marina Carobbio (49) drückt es radikaler aus. «Die Schweiz ist das familienunfreundlichste Land Europas», so die Tessiner Nationalrätin, Ärztin und zweifache Mutter. Die Eidgenossenschaft gebe im Schnitt viel weniger Geld für Familien aus als die anderen Staaten. Für viele Eltern und Alleinerziehende bedeuteten Kinder immer noch ein Armutsrisiko.

Als Mutter Stapi werden – geht das?

Die SP-Spitzenpolitikerin Ursula Wyss (43) weiss aus Erfahrung, wo die Schweiz in Sachen Familie besonders rückständig ist. Sie steht gerade im Wahlkampf um das Berner Stadtpräsidium. Die ehemalige Fraktionschefin der SP hat ebenfalls zwei Kinder, Lyonel (5) und Julian (18): «Ich muss mich immer noch erklären, wie ich meinen Nachwuchs und das Stapi-Amt unter einen Hut bringen könne. Und ob ich dann meine Kinder noch sehe.»

Zwar sei die Frage legitim, wie man sich organisiere. Wyss glaubt aber nicht, dass die männlichen Kandidaten sie ebenfalls beantworten müssten: «Wenn eine Frau mit Kindern Karriere macht, ist das halt scheinbar immer noch etwas Besonderes.»

Den Frust junger Paare kann sie gut nachvollziehen. Zwar sei vor allem in den Städten viel passiert. Trotzdem, so Wyss, müsse sich eine Familie noch immer hauptsächlich privat organisieren: «Kindertagesstätten sind – speziell für den Mittelstand, der die vollen Tarife bezahlen muss – viel zu teuer!»

Auch Linke kritisch

Dass die Kombination von Familie und Beruf bei Frauen nicht einmal im linken Milieu selbstverständlich ist, erlebte auch Chantal Galladé (43). Die Zürcher SP-Politikerin, die als erste Alleinerziehende im Nationalrat sass, kandidierte 2014 für den Regierungsrat. «Selbst meine Genossen wollten immer wieder wissen, wie ich die Kinderbetreuung und das Exeku­tivamt bewältigen wolle.»

Mittlerweile hat Galladé zwei Kinder und einen Partner – und gibt in der grossen Kammer weiter Vollgas. Ihre Parteikollegin Wyss sieht bei aller Kritik auch Fortschritte: «Bei meinem ersten Kind gab es meist nur Frauen auf den Spielplätzen. Heute kümmern sich auch Väter um ihre Sprösslinge.»

Nun will das Mitte-links-Lager im Parlament Druck machen. «Familien benötigen Geld, Zeit und Infrastrukturen», fordert CVP-Nationalrat Martin Candinas (35, GR). Er ist selbst Vater von drei Kindern.

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