Strafrechtsprofessor sieht Mängel
Ins Gefängnis ohne Prozess – der Politik ists egal

Wer einen Strafbefehl anficht, hat gute Chancen, dass das Verfahren eingestellt wird. Das zeigt: Das Schweizer Strafprozessrecht hat ein Problem. Doch die Politik will davon nichts wissen, schreibt der Beobachter.
Publiziert: 20.07.2023 um 20:17 Uhr
sarah_serafini.jpg
Sarah Serafini
Beobachter

Wer einen Strafbefehl erhält, kann dagegen Einsprache einlegen. Davon macht jedoch nur jeder zehnte Beschuldigte Gebrauch. Dabei würde es sich in vielen Fällen lohnen. Denn wer sich wehrt, hat oft Erfolg. Dazu hat der Beobachter kürzlich erstmals Zahlen veröffentlicht.

In Zürich stellte die Staatsanwaltschaft im letzten Jahr bei 13 Prozent der Einsprachen gegen einen Strafbefehl das Verfahren ein. In Zug führten 20 Prozent der Einsprachen zur Verfahrenseinstellung. In Baselland gar jede vierte Einsprache. Andere Kantone erheben diese Zahlen nicht. Doch die Beispiele von Zürich, Zug und Baselland zeigen: Das Strafbefehlsverfahren ist fehlbar.

Artikel aus dem «Beobachter»

Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.

Probieren Sie die Mobile-App aus!

Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.

Probieren Sie die Mobile-App aus!

Anwälte und Strafrechtsexpertinnen kritisieren die Praxis der Staatsanwaltschaften seit Jahren. Es sei Justiz im Eilverfahren. Das spare Zeit und Geld – ziehe aber Probleme nach sich. Häufig kritisiert wird die kurze Einsprachefrist von zehn Tagen. Oder dass Strafbefehle nicht übersetzt werden, wenn der Beklagte fremdsprachig ist. Auch gibt es in den meisten Strafbefehlsverfahren keine Einvernahmen.

Mit Strafbefehlen können Menschen von Staatsanwälten verurteilt werden. (Symbolbild provisorisches Polizeigefängnis der Kantonspolizei Zürich)
Foto: Thomas Meier
1/5

Eine Minirevision

Politikerinnen und Politiker hätten es in der Hand gehabt, diese Probleme anzugehen. In den letzten Jahren verhandelte das Schweizer Parlament über die Revision der Strafprozessordnung. Nach langen Diskussionen im National- und im Ständerat wurde diese schliesslich im Sommer 2022 von der Bundesversammlung beschlossen. Die Referendumsfrist lief ungenutzt ab, und die neuen Regeln werden voraussichtlich am 1. Januar 2024 in Kraft treten.

Allerdings ändert die Revision an der umstrittenen Strafbefehlspraxis kaum etwas. Immerhin: Künftig sind die Staatsanwaltschaften verpflichtet, eine Einvernahme der beschuldigten Person durchzuführen, wenn ihr eine Freiheitsstrafe droht. Weiterhin keine Pflicht zur Befragung gibt es, wenn die Staatsanwaltschaft «nur» eine Geldstrafe verhängt.

Abgelehnt hat das Parlament, die Frist zur Anfechtung eines Strafbefehls von zehn Tagen auf 30 Tage zu verlängern. Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan forderte dies während der Debatte in einem Minderheitsantrag. Sie argumentierte, alle Menschen sollten die Möglichkeit haben, sich genügend zu informieren und zu ihrem Recht zu kommen. «Doch erfahrungsgemäss melden sich Leute, die nicht gut genug Deutsch können oder aus bildungsfernen Kreisen kommen, erst nach einigen Wochen bei Experten, um fachlichen Rat einzuholen», so Arslan.

Ihr Votum spielte in der weiteren Diskussion keine Rolle. Auch nicht, dass mit einer längeren Einsprachefrist mehr Irrtümer der Staatsanwaltschaften erkannt würden. In der Abstimmung wurde der Antrag von Arslan mit 65 zu 125 Stimmen deutlich verworfen. Andere Kritikpunkte, beispielsweise die Zustellfiktion, kamen nicht einmal zur Sprache.

«Es ging darum, den Status quo zu schützen»

Der grünliberale Beat Flach sitzt in der Rechtskommission des Nationalrats. Er sagt: «Bei der Revision ging es darum, dass man den Staatsanwaltschaften noch mehr Macht einräumen wollte, indem die Teilnahmerechte bei Einvernahmen eingeschränkt und der Anwalt der ersten Stunde abgeschafft werden.» Beides habe man verhindern können. Allfällige Probleme rund um das Strafbefehlswesen seien nicht Inhalt der Debatte gewesen. «Es ging darum, den Status quo zu schützen», so Flach.

Für den Strafrechtsprofessor Marc Thommen ist die Revision eine verpasste Chance. Mit einem Team hat er für eine Studie des Nationalfonds gut 3000 Strafbefehlsdossiers untersucht und auf rechtsstaatliche Mängel aufmerksam gemacht.

Die Kritik des Strafrechtsprofessors
  • Rechtliches Gehör: In gut einem Viertel der Fälle findet keine Befragung statt. Fast drei Viertel der Strafbefehle ergehen ohne jede Begründung.
  • Recht auf Anwalt: 92 Prozent der Strafbefehlsverfahren finden ohne Verteidigung statt.
  • Recht auf Übersetzung: In über zwei Dritteln der Fälle, in denen die Beschuldigten die Verfahrenssprache nicht verstehen, werden die Strafbefehle nicht übersetzt.
  • Freiheitsstrafen: Strafbefehle haben in den letzten Jahren eine überragende Bedeutung erhalten. Drei von vier Personen, die zu Freiheitsstrafen verurteilt werden, haben nie ein Gericht gesehen.
  • Einsprachefrist: Innerhalb von nur zehn Tagen kann man gegen den Strafbefehl Einsprache erheben.
  • Zustellfiktion: Ein Strafbefehl gilt nach sieben Tagen als zugestellt, wenn er eingeschrieben versandt wurde. Ob die beschuldigte Person die Sendung entgegennehmen konnte, spielt keine Rolle.
  • Dossierfiktion: Wenn sich die Adresse eines Beschuldigten nicht eruieren lässt, wird der Strafbefehl in einem Dossier abgelegt und gilt als zugestellt. Der Beschuldigte erfährt nicht, dass er verurteilt wurde.
  • Rechtliches Gehör: In gut einem Viertel der Fälle findet keine Befragung statt. Fast drei Viertel der Strafbefehle ergehen ohne jede Begründung.
  • Recht auf Anwalt: 92 Prozent der Strafbefehlsverfahren finden ohne Verteidigung statt.
  • Recht auf Übersetzung: In über zwei Dritteln der Fälle, in denen die Beschuldigten die Verfahrenssprache nicht verstehen, werden die Strafbefehle nicht übersetzt.
  • Freiheitsstrafen: Strafbefehle haben in den letzten Jahren eine überragende Bedeutung erhalten. Drei von vier Personen, die zu Freiheitsstrafen verurteilt werden, haben nie ein Gericht gesehen.
  • Einsprachefrist: Innerhalb von nur zehn Tagen kann man gegen den Strafbefehl Einsprache erheben.
  • Zustellfiktion: Ein Strafbefehl gilt nach sieben Tagen als zugestellt, wenn er eingeschrieben versandt wurde. Ob die beschuldigte Person die Sendung entgegennehmen konnte, spielt keine Rolle.
  • Dossierfiktion: Wenn sich die Adresse eines Beschuldigten nicht eruieren lässt, wird der Strafbefehl in einem Dossier abgelegt und gilt als zugestellt. Der Beschuldigte erfährt nicht, dass er verurteilt wurde.
Mehr

SP-Ständerat Daniel Jositsch, selbst Jurist und Mitglied der Rechtskommission der kleinen Kammer, teilt die Einschätzung von Strafrechtsprofessor Thommen, sieht die Situation aber weniger dramatisch. «Aus meiner Sicht hat das Parlament in der Abwägung zwischen Effizienz und Rechtsstaatlichkeit entschieden.» Sein Rats- und Kommissionskollege Andrea Caroni (FDP) findet, man könne es auch positiv sehen, dass Verfahren eingestellt werden, wenn gegen den Strafbefehl Einsprache erhoben wurde: «Mit Einsprachen kommen neue Argumente ins Verfahren. Es spricht für die Staatsanwaltschaft, wenn sie auf diese eingeht und ihre vormalige Meinung zu revidieren bereit ist.»

Der grünliberale Nationalrat Flach sieht es kritischer. Er habe schon oft vor der «Dunkelkammer Strafbefehlsverfahren» gewarnt. «Die Empfänger von Strafbefehlen erhalten eine Strafe vorgeschlagen und wissen meist nicht, dass dies eben nur ein Vorschlag ist. Auf der anderen Seite sprechen die Staatsanwaltschaften grosszügigere Strafen aus, weil sie sich sagen, der Beklagte könne sich ja dagegen wehren.» Er als Jurist mache ausserdem häufig die Erfahrung, dass viele Anwälte von einer Einsprache abraten, weil sich das nicht lohne. Zudem kann ein Gericht mitunter die vorgeschlagene Strafe auch erhöhen. «Der Strafwille der Staatsanwälte wird durch verschiedene Faktoren gestärkt und der Grundsatz ‹In dubio pro reo› zuweilen missachtet.»

Das Grundproblem sei, dass Strafbefehle zu selten weitergezogen werden, sagt Flach. Das habe aber nicht mit der Strafprozessordnung zu tun, sondern damit, dass die Bevölkerung zu wenig über diese Möglichkeit Bescheid wisse. «Ausserdem übernutzen wir das Strafrecht für viel zu viele opferlose Straftaten wie Schwarzfahren oder Bettelverbote. Die Staatsanwaltschaften sind überlastet, die Verfahren dauern zu lange, das Resultat sehen wir nun.»

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?