Swissair, GC und CS heruntergewirtschaftet – am Sechseläuten wieder hoch zu Ross
Zürcher Elite zelebriert ihren Zerfall

Der Zürcher Filz war ein mächtiger Kreis, von dem die ganze Schweiz profitiert hat. Mit dem Untergang der Credit Suisse bricht eine weitere Säule der Macht weg. Erklären lässt sich der Zerfall mit der Globalisierung – und mangelnder Demut.
Publiziert: 17.04.2023 um 01:12 Uhr
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Aktualisiert: 17.04.2023 um 20:13 Uhr
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Peter HossliReporter & Leiter Journalistenschule

Heute reiten sie wieder, am Zürcher Sechseläuten. Männer in engen Hosen und hohen Stiefeln galoppieren um einen Scheiterhaufen, bis die Flammen den Böögg verschluckt haben. Am festlichen Umzug stolzieren sie vorbei am Volk, das ihnen vom Strassenrand aus Blumen zuwirft.

Es ist ein Fest, bei dem sich die Mächtigen Zürichs selbst feiern.

Ihre Macht aber ist brüchig geworden. Ein Wort fällt oft: «zerbröselt». Der Einfluss des Zürcher Filzes sei zerfallen.

Hoch zu Ross gibt sich die Zürcher Elite nur noch am Sechseläuten.
Foto: Keystone
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Eine Bank aus Basel hat Mitte März die Credit Suisse für einen Notgroschen gekauft, seit 167 Jahren der Stolz der Zürcher Eliten. Die staatlich gestützte Übernahme durch die UBS bewahrte die Hausbank des Freisinns vor dem Konkurs.

Die CS ist nicht die einzige Säule der Macht, die in Zürich eingestürzt oder beschädigt ist:

  • Die Swissair fliegt seit über 20 Jahren nicht mehr. Ihre Nachfolgerin, die Swiss, gehört der deutschen Lufthansa.
  • Beim Grasshopper Club, nostalgisch «Rekordmeister» genannt, traf sich die Elite einst hinter der Haupttribüne des Hardturms bei Kalbsbratwurst, Bürli und Senf. Heute gehört GC einem chinesischen Grosskonzern und ist sportlich nicht mal mehr Mittelmass.
  • Der Hardturm ist abgerissen, der Spatenstich für ein neues Stadion nicht in Sicht.
  • Der Stimmenanteil der FDP sank in der Stadt Zürich von knapp 40 Prozent vor dem Ersten Weltkrieg auf noch 17,5 Prozent.
  • Intrigen und Skandale plagten in den letzten Jahren das Universitätsspital.
  • Das Kunsthaus, das der Elite besonders am Herzen liegt, geriet international in die Schlagzeilen, weil es die Herkunft einiger Gemälde der Sammlung Bührle nicht ordentlich abgeklärt haben soll.
  • Die Zünfte, die Wirtschaftsgilden der Stadt und ursprünglich Zentrum der Macht, haben Nachwuchssorgen und sind nicht viel mehr als Reiter in Kostümen.

Was ist los mit dem Filz? «Wir erleben in Zürich gerade einen weit grösseren gesellschaftlichen Wandel, als viele wahrhaben wollen.» Das sagt eine Person, die an der Limmat seit Jahrzehnten die Fäden zieht und das bewusst im Hintergrund tut. Ein solcher Wandel sei «im schlechtesten Sinne ein Zerfall, bei dem nichts nachkommt. Oder es ist eine Metamorphose, bei der etwas Neues entsteht.» Aktuell sei aber «himmeltraurig», was passiere: «Die Alten sterben, die Jungen wollen und können nicht übernehmen.»

Und das sei gefährlich, nicht nur für Zürich, sondern für die ganze Schweiz. Von keiner anderen Stadt gingen in den letzten Jahrhunderten vergleichbare wirtschaftliche und gesellschaftliche Impulse aus. Um überdurchschnittlich bleiben zu können, brauche es urbane Eliten, die vorangingen. «Ebnet man diese Führung ein, fällt ein Land ins Mittelmass.»

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Pflichtbewusst, loyal, zwinglianisch

Lange Zeit brachten die zwinglianisch geprägten Züricherinnen und Zürcher genau das mit, was nötig war, um Banken und Betriebe aufzubauen und erfolgreich zu leiten, um das politische und das akademische Geschehen zu bestimmen. Zwar galten sie als humorlos, dafür als fleissig, gegen aussen bescheiden, sie waren pflichtbewusst und loyal.

An den einflussreichen Zürcher Mittelschulen begannen sie, ihre Netzwerke zu knüpfen, an der Hohen Promenade, am Gymnasium Rämibühl. Engmaschiger wurden die Geflechte an der Universität und an der ETH. Nach dem Lizenziat ging einer zur Kreditanstalt, die andere zur Schweizerischen Rückversicherung, der nächste wurde Redaktor bei der NZZ, einer promovierte und blieb als Professor an der Universität, viele politisierten im Bundeshaus, darunter mächtige Frauen wie Vreni Spoerry (85) und Elisabeth Kopp (1936–2023).

Das Vorbild aller war Alfred Escher (1819–1882), diese schweizerische Jahrhundertfigur, die gründete, gestaltete, führte. Ohne ihn wären ETH, CS, SBB und Swiss Life nie oder viel später und anders entstanden. Die Erben Eschers teilten Werte sowie politische und gesellschaftliche Ansichten. Es gehörte dazu, sich für die hohe Kultur zu engagieren, für Kunst- und Opernhaus sowie die Tonhalle. Man konnte sich aufeinander verlassen, setzte sich für das Kinderspital ein. Die Männer stiegen im Militär zu Offizieren auf. Man traf sich im Rotary Club, beim Golfen am Dolder, bei der FDP, an der Generalversammlung der NZZ, nahm den Sohn mit zum GC-Match und stellte ihn dort dem Herrn Bankdirektor vor. Den Nachwuchs fand die Elite in den eigenen Reihen.

Jahrzehntelang bildeten die Universitäten gute, wenn nicht brillante Leute aus. Gepaart mit dem protestantischen Arbeitsethos vermochten sie die Konzerne ordentlich zu führen. Zumal sie treu blieben, was jedes Unternehmen stärkt.

Es war ein Kreis, der das Land prägte – vor allem im Guten. Ohne diese Zürcher Wirtschaftsgemeinschaft wäre die moderne Schweiz kaum denkbar.

Der Zerfall begann mit der Globalisierung

Der Fall der Berliner Mauer 1989 änderte vieles. Die Welt liess sich nicht mehr in Gut und Böse zweiteilen. Die Globalisierung schien Chancen zu eröffnen. Manchem wurden Zürich und die Schweiz zu klein. Mit dem Zuger Rainer Gut (90) war es ein Katholik aus der Zentralschweiz, der als Präsident die protestantische Kreditanstalt hinaus in die Welt trug. Im grossen Stil expandierte er in den 1980er- und 1990er-Jahren nach Amerika, was die Kultur in Zürich änderte.

Mit der First Boston kam das Investment Banking dazu, ein Geschäft, das man bei der CS nie ganz verstand und nie richtig betreiben konnte. Die Aktionäre segneten Gehälter und Boni am Paradeplatz ab, wie sie sonst an der Wall Street in New York üblich sind. Nur so könne man fähiges Personal holen und halten, als seien die bewährten heimischen Talentschmieden nicht mehr gut genug.

Fortan war wichtiger, was jemand konnte, als woher er kam. Der Wettbewerb um Talente und Jobs wurde global. Genügte der Sohn des GC-Anhängers nicht, holte der Bankdirektor halt jemanden aus Deutschland. Für die Eliten war es nicht mehr zwingend, die eigenen Kinder zu fördern. Die Personenfreizügigkeit behob den Fachkräftemangel. Die Jungen konnten sich nicht mehr auf die alten Seilschaften verlassen und verloren das Interesse daran. Eine Karriere in Rio oder Rom schien prickelnder als das Pult am Paradeplatz und das Znacht im Zunfthaus.

Man kommt und geht. Ob Bank, Versicherung oder Hörsaal: Es sind internationale Plattformen geworden, auf denen man sich trifft, sich intensiv auf Englisch austauscht und nach einer Weile wieder auseinanderdriftet. In einem solchen Umfeld gedeihen keine lokalen Eliten. Zumal es vielen reicht, 60 oder 80 Prozent zu arbeiten.

Damals, als die Globalisierung begann, publizierten Banker und Unternehmer ihre neoliberalen Weissbücher. Sie glaubten, die Schweiz würde den Anschluss verpassen, wenn man nicht globaler denken würde. Aus Angst, abzusteigen, begannen viele, den Standort Schweiz geringzuschätzen. «Man wollte grösser sein, als man ist», sagt der ehemalige Bankier Konrad Hummler (70). Er spricht von einem «Master-of-the-Universe-Syndrom», an dem die Zürcher Macht zerfallen sei.

Als CS-Präsident Urs Rohner (63) einen Nachfolger für seinen amerikanischen Chef Brady Dougan (63) brauchte, schaute er sich in der City in London um. Rohner, selbst kein Banker, holte Tidjane Thiam (60), ebenfalls kein Banker. Der Franzose passte weder zur CS noch nach Zürich. Nach ihm führten zwei Nummer-2-Typen die torkelnde Bank.

Die alten Eliten aber konnten führen. Sie waren gut und klug genug, das nicht laut zu sagen. Gerade weil sie im Stillen wirkten, erreichten sie mehr. Ausser am Sechseläuten zeigten sie sich kaum öffentlich. Solange sie achtsam agierten, funktionierte vieles. «Dann verloren die Besten die Bodenhaftung», sagt der einstige NZZ-Präsident Hummler. «Zuletzt bewegten sie sich nur noch an der Oberfläche, statt in die Tiefe zu gehen.»

Allein in den letzten zwölf Jahren geschahen in Zürich Dinge, die nicht hätten passieren dürfen. Die Frau des damaligen Nationalbankpräsidenten Philipp Hildebrand (59) handelte mit Dollar, während er mithalf, die Wechselkurse zu steuern. Credit-Suisse-Chef Dougan gestand in Washington ein, dass seine Banker jahrzehntelang Gelder vor dem amerikanischen Fiskus versteckt hatten. Die CS wurde Hauptsponsorin des Zurich Film Festivals, das die Partnerin von CS-Präsident Rohner leitete. Die Bank liess einstige und aktuelle Mitarbeiter von Detektiven beschatten; es kam zu einem Suizid.

Aus Sicht der Zürcher Elite sind all das Zeichen eines moralischen Zerfalls. Die Vorbilder hatten versagt. Es entstand ein Vakuum, das auf der politischen Ebene Linke und Grüne auffüllten.

Keine Fehlerkultur mehr

Als stossend empfindet es Hummler, dass die Eliten nicht mehr hinstehen und Fehler zugeben. Wie einst, als Heinz Wuffli (1927–2017) nach dem Chiasso-Skandal 1977 die Verantwortung übernahm und seinen Posten als Generaldirektor der Kreditanstalt räumte. «Es kann passieren, dass man 99 Prozent des Kapitals vernichtet», sagt Hummler. «Aber dann musst du sagen: ‹Das war nicht gut›.»

Stattdessen verstummen die von den Medien als Versager dargestellten Personen, ausrangiert von den alten Machtzirkeln, gesellschaftlich geächtet. Im Vorfeld des diesjährigen Sechseläutens war durchgesickert, die Zunft zur Meisen habe zwei ehemaligen CS-Präsidenten nahegelegt, nicht mehr aufzutauchen. «Niemand will vom Schattenwurf getroffen werden, der von ihnen ausgeht», erklärt es die Person im Hintergrund. «Dass sie weder Demut noch Einsicht zeigen, ist nicht verwunderlich. Diese Menschen sind in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gross und mächtig geworden. Immer ging es aufwärts. Sie lernten nicht, bescheiden zu sein. Zuletzt überstieg die Arroganz das zulässige Mass.»

Hochmut hat den Fall begünstigt.

Ist eine Metamorphose möglich, eine Zürcher Renaissance? Zumindest ist die ETH noch immer eine Hochschule mit Weltrang, die NZZ ein führendes Medium im Land. Einen Sitz im Bundesrat aber hat Zürich derzeit keinen mehr. Die UBS setzt mit Sergio Ermotti (62) auf einen erfahrenen und geerdeten Handwerker aus dem Tessin. Die starke Frau im Freisinn – Bundesrätin Karin Keller-Sutter (59) – wuchs in Wil in St. Gallen auf, der starke Mann – Parteipräsident Thierry Burkart (47) – in Kirchdorf im Kanton Aargau. Sie alle kommen aus der Provinz.

Aus dem urbanen Zürich ist weit und breit niemand in Sicht.

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