Über das Wort des Jahres und dessen Ursprung
Bevor der Doppeladler das Fliegen lernte

Das albanische Wappentier hat uns 2018 geradezu verfolgt . Zu allem Überfluss wurde der Doppeladler auch noch zum Wort des Jahres gewählt. Höchste Zeit, ihn einmal aus einer 
 anderen Perspektive zu beleuchten.
Publiziert: 30.12.2018 um 09:35 Uhr
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Aktualisiert: 30.12.2018 um 12:57 Uhr
Unsere beiden Nati-Superstars in emotionaler Geste in Richtung der serbischen Hooligans, die ihren Tod forderten.
Foto: zVg
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Dafina Eshrefi

Im Dezember 1991 war es so weit. Was meine Eltern seit Wochen besprochen hatten, sollte wahr werden. Wir würden in die Schweiz flüchten.

Die Lage in unserer Heimat, dem Kosovo, hatte sich dramatisch verschlechtert. Seit einem Tränengasangriff während des Unterrichts hatte ich die Schule nicht mehr besucht.

Der Krieg war ausgebrochen: Anders konnte ich mir die schwer bewaffneten serbischen Polizisten in meiner Geburtsstadt Pristina nicht erklären.
Mein Vater war schon zwei Mal verhört worden, ein drittes Mal würde man ihn wahrscheinlich nicht mehr freilassen. Wie alle albanischen Mitarbeiter des damaligen Staatssenders RTP (Radio Televizioni i Prishtinës) hatte er zwei Möglichkeiten: Entweder mit dem serbischen Regime zusammenarbeiten und seine Freunde sowie die albanische Identität verraten – oder das Weite suchen und untertauchen.

Menschen zweiter Klasse

Der Grund für die Diskriminierung im eigenen Land: Wir waren Albaner. Dass wir wie Menschen zweiter Klasse behandelt wurden, bemerkte ich schnell. Wir durften weder zu unserer Sprache noch zu unserem Glauben noch zu unserer Kultur stehen. Ich kann mich noch genau an viele Demonstrationen in Pristina erinnern. Albaner versammelten sich zu Tausenden und demonstrierten mit dem Peace-Zeichen für Gleichberechtigung und Demokratie im Kosovo – gegen das serbische Regime.

Wir waren noch weit davon entfernt, mit unseren Händen den Doppeladler zu formen, geschweige denn, die Unabhängigkeit des Kosovo zu fordern. Genauso weit entfernt schien vielen von uns die Schweiz. Deren künftige Nati-Superstars Shaqiri oder Xhaka hatten gerade erst das Licht der Welt erblickt.

«Das sind einfach etwas längere Ferien», suchte uns meine Mutter zu beruhigen. Wie zum Trotz nahmen wir nur das Nötigste mit. Wir würden ja bald zurückkehren. Meine Eltern wollten auch später nie eingestehen, ihre Heimat verlassen zu haben.
Bald war unser Haus von Serben geplündert und besetzt.

Flüchtlingskinder erobern Schweizer Fussball

Fast drei Jahrzehnte später spielen Kinder von Flüchtlingsfamilien wie der unseren für die Schweizer Nationalmannschaft Fussball gegen jenes Land, das sie einst aus ihrer Heimat vertrieben hatte, dessen Armee und Paramilitärs auch die albanische Zivilbevölkerung nicht verschonte.

Fast drei Jahrzehnte später spielen Kinder dieses einst vertriebenen Volkes für ein Land, das ihnen Schutz und Sicherheit bietet. Für ein Land, das ihnen alle Freiheiten und Rechte gegeben hat, auch ihre Herkunft, Sprache und Kultur pflegen zu dürfen – etwas, was sie, was wir im eigenen Land nie durften.

Es standen Flüchtlingskinder auf dem Rasen, die zu Männern herangewachsen waren, die für eine freiheitsliebende Schweiz spielen. Eine Schweiz, die jedem die Chance gibt, dazuzugehören! Eine Schweiz, die Menschen ungeachtet ihrer Herkunft, Religion oder Hautfarbe mitspielen lässt.

Doppeladler fliegt

Als unser Xhaka unter massivstem Druck und unüberhörbarem Hass seitens der serbischen Fans den ersten Treffer für unsere Schweiz ins gegnerische Tor donnerte und den albanischen Doppeladler fliegen liess, konnten es besonders die Hooligans nicht fassen.

Diesem elenden Albaner wären zu den «guten, alten» Milosevic-Zeiten gleich beide Hände abgehackt worden, damit er damit nie wieder den Doppeladler hätte formen können.

Oder man wäre mit ihm gleich so verfahren, wie es aus der serbischen Fanmeile während des ganzen Spiels laut zu hören war: «Tötet die Albaner!» Doch dieser Albaner ist eben nicht irgendeiner.
Er ist Albano-Schweizer.
Er spielt für ein Land, das er mittlerweile seine Heimat nennt!

Nati-Captain Stephan Lichtsteiner, der einst von «richtigen und anderen Schweizern» sprach, hat den Hass vor und während des Spiels hautnah miterlebt – und so erfahren, was die Familien seiner Jungs durchmachen mussten und müssen: Er zeigt den Doppeladler ebenfalls. Da habt ihr es!
Ich bin Schweizer. In meinem Land hat es seit Jahrhunderten keinen Krieg mehr gegeben, bei uns sperrt niemand Vögel ein, ihre gebrochenen Flügel werden gepflegt und sie können in unseren Alpen das Fliegen lernen!

Menschen wie Lichtsteiner haben uns Vertriebenen die Hand gereicht, als es uns am schlechtesten ging.

Pfarrer, Hausärzte, Lehrerinnen und Lehrer, Trainer, Bauern, Bauarbeiter und Professoren haben sich damals für uns eingesetzt und uns das Gefühl gegeben: Du bist jetzt in Sicherheit, du gehörst zu uns!

Zeichen der Freiheit

Diese vielfältig bunten Schweizer stehen nun beim Public Viewing und bejubeln ihren Torschützen, dessen Vater einst in einem serbischen Gefängnis sass, weil er sich für sein Land eben genau diese Freiheit wünschte, die jene jungen Männer an diesem historischen Abend repräsentieren!

Gegen dieses mächtige Signal, das weltweit ausgestrahlt wird, kann auch kein Sascha Ruefer vom SRF mit seinem Kommentar, die Geste sei «bescheuert, dumm und überflüssig», etwas ausrichten.

Der Doppeladler ist ein Phänomen, das von Kindern einst geflüchteter Albaner geprägt wurde.

Der Doppeladler-Geste zu Ruhm und Ehre verholfen haben Albano-Schweizer wie Pajtim Kasami, Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri.

Die Serben täten gut daran, 
ihren weissen Doppeladler vom serbischen Kreuz zu befreien, das an Krieg und Tod erinnert, um ihm ebenfalls das Fliegen beizubringen.

Vielleicht könnten eines Tages der albanische und der serbische Doppeladler gemeinsam zu Höhenflügen ansetzen.

In den Schweizer Alpen. Unter freiem Himmel. 

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