Unia-Chefin Vania Alleva tobt wegen Arbeitgeber-Lohnstudie
«Und die Erde ist eine Scheibe»

Die Präsidentin der Gewerkschaft Unia, Vania Alleva (54) macht klar, was sie von der Lohnstudie des Schweizerischen Arbeitgeberverbands (SAV) hält. Und weshalb der Frauenstreik in ihren Augen so wichtig ist.
Publiziert: 13.06.2023 um 12:48 Uhr
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Aktualisiert: 14.06.2023 um 09:46 Uhr
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Pascal TischhauserStv. Politikchef

Eine Tramstation vom Gebäude des Weltpostvereins entfernt steht der Berner Hauptsitz der Gewerkschaft Unia. Hier empfängt Präsidentin Vania Alleva (54) Blick in ihrem Büro. In der Ecke steht eine Unia-Fahne. Auf ihrem Schreibtisch prangt ein weisser Unia-Bauhelm. Und hinter ihrem Bürostuhl hängt ein Bild, das einen wilden Haufen wehrhafter Frauen zeigt. Die stachligen Kakteen am Fenster hätte es eigentlich nicht mehr gebraucht, um zu demonstrieren: Das hier ist nicht das Chefbüro einer Montessori-Schule, hier geht der Arbeitskampf weiter.

Blick: Frau Alleva, glaubt man einer Studie der Arbeitgeber, gibt es kaum eine unerklärbare Lohndifferenz zwischen Frauen und Männern. Demnach verdienen Arbeitnehmerinnen bloss 3,3 Prozent weniger.
Vania Alleva: Genau, es gibt keine Lohndiskriminierung mehr – und die Erde ist eine Scheibe! Sorry, aber das ist ein schlechter Witz. Wir halten uns an die offiziellen Zahlen des Bundes: Das Einkommen der Frauen ist 19,5 Prozent tiefer als jenes der Männer. Über 45 Prozent der Lohndifferenz lassen sich nicht erklären. Und die Frauen haben ein Drittel weniger Rente, weil sie den Löwenanteil der unbezahlbaren Care-Arbeit tragen.

Aber …
… nichts aber! Die Frauen leisten 5,5 Milliarden Stunden Care-Arbeit pro Jahr. Ihnen entgehen 315 Milliarden Franken. Hinzu kommt: Die Lohnschere öffnet sich seit 2016 wieder. Das ist die Realität. Die tiefen und mittleren Einkommen leiden besonders unter dem Kaufkraftverlust. Und hier sind Frauen überproportional stark vertreten. Zudem besteht in den Frauenberufen eine strukturelle Lohndiskriminierung: Je geringer der Männeranteil einer Branche, desto tiefer ist der Stundenlohn. Das ist statistisch belegbar.

Unia-Präsidentin Vania Alleva zerzaust die Lohnstudie des Arbeitgeberverbands.
Foto: keystone-sda.ch
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Erste Unia-Präsidentin

Die schweizerisch-italienische Doppelbürgerin Vania Alleva (54) wuchs in Zürich als Tochter eines Lastwagenfahrers und einer Schneiderin auf. Sie studierte Kunstgeschichte in Rom. 1997 begann sie bei der Gewerkschaft Bau und Industrie zu arbeiten, die zur heutigen Unia fusioniert wurde. Seit Mitte 2015 präsidiert Alleva die Gewerkschaft als erste Frau allein.

Die schweizerisch-italienische Doppelbürgerin Vania Alleva (54) wuchs in Zürich als Tochter eines Lastwagenfahrers und einer Schneiderin auf. Sie studierte Kunstgeschichte in Rom. 1997 begann sie bei der Gewerkschaft Bau und Industrie zu arbeiten, die zur heutigen Unia fusioniert wurde. Seit Mitte 2015 präsidiert Alleva die Gewerkschaft als erste Frau allein.

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Die Studie passt Ihnen einfach nicht, oder?
Sie ist nicht repräsentativ. Sie beruht auf unüberprüften Aussagen von Unternehmen mit über 100 Beschäftigten. Von diesem einen Prozent aller Schweizer Betriebe werden in der Studie zudem nicht einmal zehn Prozent berücksichtigt. Meines Wissens wurden in den allermeisten Analysen nie die Personalvertretungen und Gewerkschaften miteinbezogen. Trotzdem kommt man noch auf eine unerklärbare Lohndifferenz von bis zu 8,3 Prozent. Davon zieht man flugs 5 Prozentpunkte Toleranzabzug ab, um nur noch 3,3 Prozent Differenz auszuweisen. Halten Sie das für seriös?

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Sie offenbar nicht.
Die Zahlen sind keine Referenz. Viel spannender ist die versteckte Agenda der Arbeitgeber dahinter: Es wird einfach behauptet, die Gleichstellung sei erreicht. Und den Frauen wird gesagt, sie sollten halt mehr Erwerbsarbeit leisten, dann hätten sie einen höheren Lohn.

Versteckte Agenda? Ein happiger Vorwurf!
Das ist Arbeitgeber-Politik. Am letzten Frauenstreik von 2019 waren wir eine halbe Million Menschen auf den Strassen der ganzen Schweiz. Das muss den Arbeitgebern und rechten Parteien ziemlich eingefahren sein. Deshalb versuchen sie jetzt schon seit Monaten unsere Anliegen kleinzureden. Zum Beispiel betreibt die Arbeitgeberseite ständig Teilzeit-Bashing: Entweder sollen die Frauen den Firmen 120 Prozent zur Verfügung stehen oder halt zurück an den Herd. Es wäre zielführender mitzuhelfen, die Kinderbetreuung so zu verbessern, dass sie bezahlbar und für die Familien tatsächlich hilfreich ist.

Wenn Frauen das nicht wollen, ist ihr Zahltag halt kleiner und später auch ihre Rente. Das müssen Sie doch einsehen, nicht?
Sie übernehmen den Diskurs der Arbeitgeber, wonach die Frauen selbst schuld seien! Der Arbeitgeberverband ignoriert, was Frauen sonst noch alles leisten und dass sie dafür noch weniger Einkommen erhalten. Den Arbeitgebern geht es offensichtlich darum, die grosse Einkommenslücke der Frauen kleinzureden.

Warum sollen die Arbeitgeber das tun?
Weil sie keine fairen Löhne zahlen wollen.

Das ist doch nicht Ihr Ernst!
Warum haben wir wohl noch immer diesen riesigen Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern? Die Lohndifferenz liegt im Schnitt bei 1500 Franken im Monat. Das läppert sich!

Die Betriebe können sich angesichts des Fachkräftemangels doch gar nicht mehr leisten, unfaire Löhne zu zahlen.
Natürlich schiessen sich diese Firmen ins eigene Knie. Aber die Arbeitgeber blockieren jeden Fortschritt. Deshalb müssen wir Frauen uns immer wieder wehren. Nur mit dem Druck der Strasse und aus den Betrieben geht es vorwärts mit der Gleichstellung, den Löhnen und Renten. Deshalb ist der Frauenstreik so wichtig.

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Was braucht es denn, damit sich die Situation für die Frauen verbessert?
Neben bezahlbarer Kinderbetreuung brauchen wir vor allem eine Arbeitszeitreduktion. So kann die Care-Arbeit gerechter auf mehrere Schultern verteilt werden. In der Uhrenbranche, wo gerade GAV-Verhandlungen stattfinden, ist eine Forderung eine 36-Stunden-Woche. In diese Richtung sollte es gehen. Und notwendig sind anständige Mindestlöhne: 4500 Franken für Ungelernte und 5000 Franken für Leute mit einem Lehrabschluss. Die Aufwertung der sogenannten Frauenbranchen ist dringend nötig.

Meinen Sie wirklich, Betriebe im Jura und im Tessin könnten sich solche Mindestlöhne leisten?
Glauben Sie etwa, dass das Joghurt in der Delsberger Migros oder im Coop in Lugano günstiger ist?

Nein, aber auswärts essen und die Mieten.
Wir sprechen nicht von Riesenlöhnen, sondern von Mindestlöhnen und davon, dass diese auch in sogenannten Frauenbrauchen in Gesamtarbeitsverträgen nachhaltig verankert werden müssen.

Nachhaltigkeit braucht es auch bei den bilateralen Verträgen mit der EU. Warum machen die Gewerkschaften Totalopposition gegen ein Rahmenabkommen?
Das stimmt so nicht! Wir sind für eine offene, soziale Schweiz mit einem starken Lohnschutz. Und gegen Lohndumping sowohl in der Schweiz als auch in Europa. Deshalb mussten wir das missglückte Rahmenabkommen von Cassis stoppen. Denn es wollte den Schweizer Lohnschutz opfern. Das wäre alle Arbeitnehmenden teuer zu stehen gekommen. Seither setzen wir uns bei den Gesprächen mit dem Bundesrat dafür ein, dass das bei einem nächsten Rahmenabkommen nicht wieder passiert. Und wir haben auch konkrete Vorschläge eingebracht. Bis jetzt bieten die Arbeitgeber, die sich aktiv für ein neues Rahmenabkommen einsetzen, aber keine Hand für Lösungen, die die Löhne der Arbeitnehmenden sichern. Das ist fatal.

Der Forderung nach mehr GAV verleihen Sie am Frauenstreik Nachdruck. Sie fordern «Respekt, mehr Lohn, mehr Zeit!» Beim Respekt geht es auch um die Verhinderung von sexueller Belästigung.
Hier braucht es eine Nulltoleranz. Die Zahlen bei der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz sind erschreckend. Besonders im Gastgewerbe. Die Unia-Jugend hat eine Umfrage bei über 800 Lernenden unterschiedlicher Branchen gemacht. Ein Drittel der Befragten gaben an, am Arbeitsplatz schon sexuell belästigt worden zu sein. Es ist klar, dass dies bei jungen Menschen Auswirkungen aufs ganze Leben hat. Auch darum ist der Frauenstreik so wichtig!

Für all diese Anliegen gehen Sie also am 14. Juni auf die Strasse?
Ja, mit Zehntausenden von anderen Frauen. Und ich kann nur allen ans Herz legen: kommt auch, macht mit! Wir werden ein klares Zeichen setzten. Wir werden grossartig und mächtig sein. Es sind über 20 Demos in der ganzen Schweiz angesagt. Viele werden den Frauenstreik in die Betriebe tragen – und selbst Petrus ist uns an diesem Mittwoch wohlgesonnen.

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