Vergangenheitsbewältigung
300 Mio für Zwangsmassnahme-Opfer

Die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen sollen mit bis zu 300 Millionen Franken entschädigt werden. Das schlägt der Bundesrat vor. Die Solidaritätsbeiträge würden in erster Linie vom Bund finanziert.
Publiziert: 24.06.2015 um 11:22 Uhr
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Aktualisiert: 08.10.2018 um 23:54 Uhr

Die Kantone könnten sich freiwillig daran beteiligen. Der Bundesrat erwartet jedoch einen «angemessenen Beitrag» im Umfang von etwa einem Drittel des Gesamtbetrags. Auch andere Beteiligungen sind möglich, etwa der Kirchen, des Bauernverbands oder der Pharmaindustrie.

Das ist den Unterlagen zum Gesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 zu entnehmen. Dazu hat der Bundesrat am Mittwoch die Vernehmlassung eröffnet. Es handelt sich um einen indirekten Gegenvorschlag zur Wiedergutmachungsinitiative, die vergangenen Dezember mit 110'000 Unterschriften eingereicht worden ist.

Diese verlangt 500 Millionen Franken als Entschädigung. Es würde aber länger dauern, bis das Geld bei den Opfern ankommt. Auf dem vom Bundesrat vorgeschlagenen Weg sollen möglichst viele Opfer noch in den Genuss einer Anerkennung ihres erlittenen Leides und einer Wiedergutmachung kommen. Eine grosse Zahl von ihnen ist in fortgeschrittenem Alter und gesundheitlich angeschlagen.

Die Höhe des einzelnen Solidaritätsbeitrags und der Bundesbeitrag sind nicht im Gesetzesentwurf festgelegt. Den Zahlungsrahmen müsste das Parlament in einem separaten Entscheid festlegen.

Gemäss dem Bericht peilt der Bundesrat Zahlungen von 20'000 bis 25'000 Franken pro betroffene Person an. Er geht von 12'000 bis 15'000 Opfern aus, was einen Finanzbedarf von rund 300 Millionen Franken ergibt. Betroffenenorganisationen nennen eine deutlich höhere Zahl von Opfern.

Das Gesetz regelt, wer Anspruch auf einen Solidaritätsbeitrag hat. Die Voraussetzungen müssen nur glaubhaft gemacht werden. Der Beitrag sei «ein Zeichen der Anerkennung des zugefügten Unrechts und soll zur Wiedergutmachung beitragen», heisst es im Entwurf. Darin ist auch die wissenschaftliche Aufarbeitung, die Archivierung und die Akteneinsicht sowie die Unterstützung der Betroffenen durch die Kantone geregelt.

Die Initianten reagierten positiv auf den indirekten Gegenvorschlag. Der Bundesrat halte Wort und macht vorwärts, heisst es in einer Stellungnahme. Der Solidaritätsfonds nehme eine zentrale Forderung der Wiedergutmachungsinitiative auf.

Das vom Bundesrat vorgeschlagene Vorgehen «beschleunigt den Prozess und garantiert, dass noch möglichst viele Opfer eine umfassende Wiedergutmachung erleben würden», wird der Urheber der Initiative, Guido Fluri, zitiert. Ein Rückzug der Initiative ist für die Initianten derzeit dennoch kein Thema - sie wollen die Vernehmlassung und die parlamentarischen Beratungen abwarten.

Die Initiative ist bisher auf breite Unterstützung gestossen. Im Initiativkomitee sind neben Vertreterinnen und Vertretern der Betroffenen-Organisationen Mitglieder aller Bundeshausfraktionen vertreten, mit Ausnahme der SVP.

Fürsorgerische Zwangsmassnahmen sind in der Schweiz bis 1981 angeordnet worden. Manche der Opfer wurden als Kinder an Bauernhöfe verdingt, andere zwangssterilisiert, für Medikamentenversuche missbraucht oder wegen «Arbeitsscheu», «lasterhaften Lebenswandels» oder «Liederlichkeit» weggesperrt. Der Zugang zu Gerichten blieb den Betroffenen in den meisten Fällen verwehrt.

Im Lauf der vergangenen Jahre gab es erste Schritte zur Rehabilitierung der Betroffenen. An einem Gedenkanlass bat Justizministerin Simonetta Sommaruga im April 2013 die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen im Namen des Bundesrats um Entschuldigung. Ein Jahr später verabschiedete das Parlament ein Gesetz, mit dem das Unrecht anerkannt wird. Eine finanzielle Wiedergutmachung ist darin nicht vorgesehen.

Vorerst gibt es nur einen Soforthilfefonds. In diesem Rahmen wurden bisher 4,56 Millionen Franken an 570 Personen ausgezahlt. Das sind durchschnittlich rund 8000 Franken pro Person. Die Frist für Soforthilfe-Gesuche läuft Ende Juni 2015 ab. Bis die noch hängigen gut 500 Gesuche abgearbeitet sind, dürfte es aber nächstes Jahr werden.

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