Verteuern, verdichten, verdrängen
Die Schweiz wird zu Tode gentrifiziert

In Zürich schliessen zwei traditionsreiche Kinos und ein über 150-jähriges Musikgeschäft. Das ist typisch für Schweizer Städte – und ihren Immobilienmarkt
Publiziert: 05.02.2023 um 14:52 Uhr
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Aktualisiert: 05.02.2023 um 16:50 Uhr
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Am Schluss hat alles mit dem Boden zu tun. Er ist ein begrenztes Gut, besonders in der Schweiz. Doch die Nachfrage steigt unaufhörlich – was am wachsenden individuellen Bedarf an Wohnraum liegt, an der wirtschaftlichen Prosperität und an der Einwanderung.

In den Agglomerationen äussert sich das in Form von durchgeknallten Immo-Preisen und Wohnungsknappheit.
Noch sichtbarer grassiert die Entwicklung in den Schweizer Innenstädten – nach dem Motto: «Verteuern, Verdichten, Verdrängen».

Bestes Beispiel für die Gentrifizierung ist die Boomstadt Zürich. Vergangene Woche meldete die «NZZ», das Traditionsunternehmen Musik Hug müsse seinen Stammsitz am Limmatquai räumen. Das Ladengeschäft mit Instrumenten, Noten und Tonträgern ist seit 1872 gegenüber der Wasserkirche ansässig, dem Jahr, in dem in Bayreuth (D) der Bau von Richard Wagners Festspielhaus begann. Jetzt kann die Firma den Standort nicht mehr halten und lässt den Mietvertrag auslaufen.

1927 eröffnet: Fassacdendetails des Kinos Uto in Zürich.
Foto: STEFAN BOHRER
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Wertschöpfung statt Sinnliches

Zwei weitere Fälle aus diesen Tagen: Die Kinobetreiberin Arthouse Commercio Movie AG, ebenfalls in der Limmatstadt, gab bekannt, dass sie ihre Lichtspielhäuser Uto und Alba schliesst. Das Alba zog sechzig Jahre lang die Besucher ins Niederdorf. Im Uto-Kino, benannt nach dem sagenumwobenen Namensgeber des Zürcher Hausgipfels Üetliberg, laufen die Projektoren seit 1927, dem Jahr, in dem Fritz Langs «Metropolis» Premiere feierte.

Gewiss haben diese Beispiele auch mit gesellschaftlichem Wandel und technologischem Fortschritt zu tun: Die Menschen konsumieren zunehmend digital, sie kaufen keine CDs mehr und geniessen Filme am liebsten zu Hause via Netflix. Und doch sind die aktuellen Fälle Zeugen einer Entwicklung, wie sie Genf, Basel oder Lausanne VD genauso erleben: Die Freiräume für grundlegende menschliche Bedürfnisse – Essen, Trinken, Reden, Hören, Sehen, Musizieren, Tanzen – müssen den Tempeln der Wertschöpfung weichen. Anwaltskanzleien, Treuhandbüros, Banken, Beratungsunternehmen und Versicherungen ziehen ein.

Wo früher Menschen wohnten und lebten, wird heute optimiert und profitmaximiert. Zwar haben grosse Städte ihr Gesicht im Laufe der Zeit immer wieder verändert. Doch geht dieser Prozess heute so schnell wie noch nie. Es hat mit dem Boden zu tun.

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