Wahlen ohne Wähler
Wo bleibt die Leidenschaft für unsere Demokratie?

Die Stimmbeteiligung ist in der Schweiz auf allen Schweizer Staatsebenen tief. Politikwissenschaftler Michael Strebel erörtert Gründe, warum wir unserer staatspolitischen Pflicht immer seltener nachkommen.
Publiziert: 03.04.2022 um 10:04 Uhr
Michael Strebel*

Am Sonntag erreichte die Beteiligung an den Wahlen mit 65 Prozent ein historisches Tief. Sie denken jetzt wohl: Wie bitte? Die Rede ist vom deutschen Saarland. Vom dortigen historischen Tief war man bei ebenfalls am Sonntag stattfindenden Wahlen in der Schweiz weit entfernt: In Bern lag die Beteiligung bei knapp 32 Prozent, ähnlich bzw. markant niedriger lag sie bei den zürcherischen kommunalen Parlaments- und Exekutivwahlen. Das Schlusslicht bildete Opfikon mit 20 Prozent. Diese Zahlen reihen sich in eine längerfristige Entwicklung ein.

Für die seit Jahren niedrige Beteiligung auf allen Schweizer Staatsebenen wird unter anderem folgender Grund aufgeführt: Die Bedeutung von Wahlen sei in der Schweiz geringer, denn der Bürger könne regelmässig bei Sachfragen mitentscheiden und somit in das politische Geschehen eingreifen – dies im Gegensatz zu Deutschland.

Nur wenige Vorlagen werden an der Urne entschieden

Eine verlockende Vorstellung – jedoch eine trügerische. Die Realität ist gänzlich anders. Nur sehr wenige Vorlagen (im einstelligen Prozentbereich) werden an der Urne entschieden. Zudem ist die inhaltliche Einflussnahme mittels Referendum nicht möglich, sie ist auf ein Ja oder Nein beschränkt. Das Parlament entscheidet über unzählige Sachvorlagen und finanzielle Ausgaben, es nimmt Wahlen wichtiger Personen wie Staatsanwälte oder Richter vor – alles abschliessend, ohne Mitwirkung des Stimmbürgers. Das Gleiche gilt für die Regierung, die über viele bedeutende politische Fragen abschliessend entscheidet und die Departemente (Verwaltung) führt.

In der Schweiz finden immer weniger Leute den Weg an die Urne. Die Stimmbeteiligung sinkt seit Jahren – liegt meist bei nur 30 Prozent.
Foto: Keystone
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Folglich ist es bedeutend, dass ein grosser Anteil der Bevölkerung über die Zusammensetzung der beiden Staatsgewalten entscheidet und damit über deren politische Ausrichtung. Doch tatsächlich werden die politischen Entscheide von Behörden getroffen, die von der Mehrheit der Wahlberechtigten gar nicht gewählt wurden. In Opfikon mit 20 Prozent Beteiligung wurde das bestgewählte Exekutivmitglied noch von 9,4 Prozent der Stimmberechtigten gewählt, das absolute Mehr lag bei 6,8 Prozent. Dies könnte auch für die Parteien ausgewertet werden. Bei solchen Zahlen stellt sich die Frage nach der politischen Legitimität und ob wir uns damit zufriedengeben können und wollen. Und wie kann der so oft beschworene Wählerauftrag daraus abgeleitet werden?

Unterschiedliche Faktoren begünstigen höhere Beteiligung

Die Wahlforschung geht davon aus, dass nur eine Minderheit der Nichtwähler den Wahlen aus mangelnder Akzeptanz gegenüber den politischen Institutionen fernbleibt. Ist die hohe Anzahl der Urnengänge ein Problem? Ist das Wahlprozedere zu kompliziert? Ist die politische Bildung unzureichend? Wäre der kürzlich genannte «Super-Sunday» (mehrere Kantone einer Region oder eines Landesteils wählen am gleichen Tag ihre Regierungen und Parlamente) ein Ansatz für eine stärkere Mobilisierung? Am letzten Sonntag fanden in neun zürcherischen Parlamentsgemeinden gleichzeitig Wahlen statt. Die durchschnittliche Beteiligung lag bei 28 Prozent. Im Kanton Aargau im November 2021 wurde gleichzeitig in sechs Parlamentsgemeinden gewählt, durchschnittliche Wahlbeteiligung: 47 Prozent. Dies zeigt, dass es unterschiedliche Faktoren gibt, die eine höhere Beteiligung begünstigen. Gleichzeitige Wahlen können ein Faktor sein, aber wohl nicht der (einzig) entscheidende.

Die niedrige Wahlbeteiligung ist ein Faktum, zu der sich eine weitere Entwicklung gesellt: Erst kürzlich zeigte die «Berner Zeitung» eindrücklich auf, dass «echte» Wahlen in Landgemeinden oft ausfallen, weil es nur so viele Antretende wie Sitze gibt und die Personalnot gar zu Vakanzen in Gemeindeexekutiven führt. Identische Entwicklungen lassen sich in weiteren Kantonen konstatieren. Die chronisch niedrige Beteiligung bei Gemeindeversammlungen fügt sich dann auch nahtlos ins Gesamtbild ein.

Der Stolz auf unsere ausgebauten direktdemokratischen Möglichkeiten und auf unsere Demokratie lässt sich bei den Wahlen nicht ablesen – im Gegenteil. Vielleicht ist es die trügerische Vorstellung, bei «wichtigen» Entscheiden über ein Referendum «mitreden» zu können, die zu einer Geringschätzung der Wahlen führt. Wie auch immer man die Wichtigkeit einer Vorlage definieren will, so wird wohl unbestritten sein, dass nicht nur die an der Urne entschiedenen Vorlagen in diese Kategorie fallen.

Was heisst angemessene Stimmbeteiligung?

Ein Zürcher Regierungsratskandidat wurde vor sechs Jahren gefragt, ob denn die sich abzeichnende 30-prozentige Wahlbeteiligung für ihn ein Problem darstelle. Nein, so die Antwort, bei etwa 20 Prozent müsse man jedoch «schon über die Bücher gehen». Diese subjektive Grenze ist Realität. Was eine angemessene Stimmbeteiligung ist, darüber wird in Fachkreisen trefflich debattiert. Aber mit 30 Prozent können, ja sollten wir uns nicht zufriedengeben. Wir verfügen über das Privileg der Demokratie und können unsere politische Führung selbst frei wählen – im Unterschied zu zahlreichen anderen Ländern dieser Welt. Nur auf unsere Demokratie stolz zu sein, reicht nicht. Wählen ist auch unsere staatspolitische Pflicht, nicht nur unser Recht. Nutzen wir es!

* Michael Strebel ist promovierter Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Parlamentarismus und politische Systeme. Unter anderem hat er Lehraufträge an der FernUniversität Hagen sowie der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und arbeitet für verschiedene Parlamente.

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