Weil Schweizer weniger arbeiten
Zuwanderer füllen die Lücken

Sind Schweizer die grossen Zuwanderungsverlierer? Nein, sagen Ökonomen. Viele profitieren – ohne es zu merken.
Publiziert: 15.01.2023 um 13:50 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2023 um 15:02 Uhr
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Camilla AlaborRedaktorin

Die Schweiz knackt dieses Jahr voraussichtlich die Neun-Millionen-Einwohner-Grenze. Vor zwanzig Jahren lebten hierzulande noch deutlich weniger Menschen: 7,3 Millionen.

Angesichts des rapiden Bevölkerungswachstums stellen viele – wieder einmal – die Frage: Lohnt sich die Zuwanderung? Anders ausgedrückt: Profitieren die Ansässigen, wenn jährlich rund 74 000 Menschen einwandern?

Antwort: Es kommt darauf an.

Wer profitiert von der Zuwanderung, wer verliert? Die Antwort: Es kommt darauf an.
Foto: Keystone
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Wer ein Grundstück oder Haus besitzt, gehört zu den Gewinnern. «Durch die erhöhte Nachfrage hat sich der Wert von Boden und Immobilien vervielfacht», sagt Michael Siegenthaler (37), Arbeitsmarktexperte bei der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich.

Profitiert haben auch Firmen, die Einwanderer einstellen und dadurch neue Produkte entwickeln konnten. Dies kommt, etwa in der Form von Lohnerhöhungen, auch den Mitarbeitern solcher Firmen zugute. Gewinner sind schliesslich die Einwanderer selbst, deren Einkommen mit der Zuwanderung gestiegen ist.

Fachkräftemangel in Deutschland wegen uns

Die Verlierer leben in erster Linie auf der anderen Seite der Grenze, sagt Siegenthaler. «Eine Studie zeigt, dass die Abwanderung von Pflegenden und Ärzten die Behandlungsqualität in süddeutschen Spitälern negativ beeinflusst hat.» Ein weiterer – stiller – Verlierer ist der Boden in der Schweiz: Die Zuwanderung geht mit Landverlust einher.

Hinzu kommt der Druck auf Mieten. Wer kein Haus besitzt, sieht sich mit steigenden Mietpreisen konfrontiert. Auch auf dem Arbeitsmarkt gebe es Verlierer, so Ökonom Siegenthaler. «Eine Studie fand im Tessin eine gewisse Evidenz, dass die Löhne wegen der Konkurrenz durch die Grenzgänger unter Druck kommen.»

Und was bedeutet die Zuwanderung für die Gesamtbevölkerung?

Oft wird das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf als Indikator herumgereicht. Dieses ist im internationalen Vergleich nicht übermässig stark gestiegen. Die Schlussfolgerung lautet dann: Die Zuwanderung lohnt sich nicht.

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Dem widerspricht Siegenthaler. Das BIP pro Kopf messe zwar die Veränderung des Wohlstands. Aber: «Es bildet viele Entwicklungen, die für die Zuwanderungsdebatte relevant sind, nur ungenau ab.» So misst das BIP pro Kopf die Zunahme an Freizeit nicht, die wir in den letzten Jahren gewonnen haben: «Wir arbeiten weniger, produzieren aber gleich viel.»

Tatsächlich hat die Arbeitszeit pro Einwohner in den letzten 30 Jahren deutlich abgenommen: Schweizer arbeiten mehr Teilzeit, haben mehr Ferien – und die Anzahl Rentner an der Gesamtbevölkerung nimmt zu.

Unser Wohlstand ist also mit ein Treiber für die Zuwanderung. «Weil wir weniger arbeiten, brauchen wir mehr Erwerbstätige», analysiert Siegenthaler. «Überspitzt gesagt: Mehr Teilzeit führt zu mehr Zuwanderung.»

BIP erzählt nicht die ganze Geschichte

Dieses Plus an Wohlstand bildet das BIP pro Kopf nicht ab. Zudem werde diese Kennzahl von Aspekten beeinflusst, die für die Zuwanderungsdebatte irrelevant seien – «etwa von internationalen Sportanlässen oder Pharmaexporten».

Marius Brülhart (55), Wirtschaftsprofessor an der Uni Lausanne, hält deshalb das BIP pro Arbeitsstunde für einen sinnvolleren Indikator, um den Wohlstand zu messen. «Die Zahl beantwortet die Frage: Wie viel Reichtum erzeugen wir in einer Stunde Arbeit?»

Seit der Jahrtausendwende ist das BIP pro Arbeitsstunde fast immer gestiegen – sogar in den Corona-Jahren 2020 und 2021. «Das zeugt von einem sehr robusten Produktivitätswachstum in unserem Land», sagt Brülhart.

Welchen Anteil daran die Zuwanderung hat, bleibt auch in diesem Fall offen. Denn wie man es auch dreht: Der Effekt der Migration auf den Wohlstand lässt sich nicht direkt messen.

Indirekt gibt es allerdings durchaus Hinweise auf einen positiven Migrationseffekt. So kommt eine ETH-Studie zum Schluss, dass die Zuwanderung zu höheren Einkommen führt.

Wirtschaftsprofessor Aymo Brunetti (59) ergänzt: Ohne Einwanderer hätte der Fachkräftemangel die Unternehmen in ihrer Entwicklung behindert. Zudem wirke die Zuwanderung als Konjunkturpuffer, weil sie in Krisenzeiten den Konsum stabilisiere. Solche Effekte spürt der Einzelne aber kaum.

Wie lautet also das Fazit?

Vielleicht so: Manche Einheimische erhalten dank Zuwanderung mehr Lohn; andere geraten durch die Konkurrenz unter Druck. Und: Einige profitieren stark – darunter die Zuwanderer selber.

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