Wer nicht hinschaut, zahlt zu viel – oder fährt schwarz
Tarif-Wirrwarr bei Bahn-Tickets!

Nur wer zweimal zahlt, läuft nicht Gefahr, als Schwarzfahrer zu gelten. Wer aber ein Ticket vermeintlich korrekt löst, zahlt je nach Zug zu wenig. Noch nicht absurd genug? Dann dies: Wer eine weitere Strecke löst, als er tatsächlich fährt, spart.
Publiziert: 05.10.2021 um 01:14 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2021 um 06:39 Uhr
Pascal Tischhauser

Eine Bahnfahrt von Bern nach Interlaken BE kostet mit einem Halbtaxabo 14 Franken. So unglaublich es aber tönt: Wer weiter fährt, kann günstiger fahren. Denn wer statt Interlaken die nächste Station Niederried BE eingibt, braucht kein Verbundbillett mehr, sondern kann von einem Sparbillett profitieren. Dies, weil er das Verbundgebiet verlässt – theoretisch. Rein praktisch steigt er trotzdem in Interlaken aus. Wenn er Glück hat, muss der Halbtax-Besitzer nur 8.60 Franken zahlen. Er spart also über ein Drittel des Normalpreises.

Ein Einzelfall im Berner Oberland? Von wegen! Schauen wir auf die Ostschweiz. Dort gibt es den Ostwind-Tarifverbund. Eine Frau wohnt in der Stadt St. Gallen und arbeitet in Wil SG. Sie hat ein Jahresabo für sechs Ostzonen, für das sie jährlich 1953 Franken zahlt.

Doppelt zahlen, bitte!

Nun fährt sie aber auch von St. Gallen nach Zürich in den Ausgang. Die Verbindung führt von der Gallusstadt über Wil SG und Winterthur ZH nach Zürich HB. Die Teilstrecke St. Gallen nach Wil ist dank ihres Zonenabos ja bereits gelöst. Doch was genau muss die Frau nun zahlen? Erste Variante: Nochmals die gesamte Strecke? Zweitens: Nur die Strecke Wil bis zum Zürcher Hauptbahnhof? Oder drittens: Muss sie etwa bloss einen Teil der Ostzonen, die bereits in ihrem Abo enthalten sind, nochmals zahlen?

Wer weiter löst als bis Interlaken BE, aber doch hier aussteigt, fährt günstiger.
Foto: Keystone
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Logisch wäre Antwort zwei. Aber: Alle drei Varianten treffen zu. Kommt drauf an, welchen Zug man nimmt und wo dieser hält. Wer nämlich einen Zug erwischt, der ohne Halt von St. Gallen bis Winterthur fährt, kann sein Ostwind-Abo nicht anrechnen. Faktisch muss die Passagierin die Strecke St. Gallen–Wil doppelt zahlen. Weil sie das aber nicht weiss und sie nur darum nur die Teilstrecke ab Wil löst, droht ihr die Registrierung als Schwarzfahrerin.

Auch wer kein Abo hat, muss bluten

Wer jetzt denkt, er habe nochmals Glück gehabt, weil er gar kein Abo besitzt, sollte sich nicht zu früh freuen. Auch er muss unter Umständen bluten. Nehmen wir ein Beispiel aus dem Freiamt: Ein junger Mann reist öfter von Muri AG nach Rotkreuz im Zug zu seinem Götti. Ungefähr auf der Hälfte der Strecke passiert er mit der S-Bahn die Gemeinde Sins AG, wo die Bahn jeweils hält. Fürs gesamte Streckenbillett zahlt er 3.80 Franken.

Wenn jetzt aber sein Grosi anruft und ihren Enkel auch wieder einmal sehen will, wird es teuer. Denn um beim Grosi in Sins zu übernachten und erst am nächsten Morgen weiterzufahren, braucht der Enkel logischerweise zwei Billette: eines von Muri nach Sins für 3.40 Franken und eines von Sins bis Rotkreuz. Das zweite Ticket kostet ihn 3.50 Franken. Zur Erinnerung: Normalerweise zahlt er für denselben Weg 3.80 Franken, mit Unterbruch aber 6.90 Franken – also fast das Doppelte. Logisch ist das nicht, legal aber schon.

«Das geht nur beim ÖV»

Das versteht der Preisüberwacher Stefan Meierhans (53) nicht. Von ihm stammen die genannten Beispiele. Er veranschaulicht die Haltung im ÖV wie folgt: «Stellen Sie sich vor, Sie haben in der chemischen Reinigung ein Zehner-Abo für Hemdenreinigen und -bügeln gekauft. Nun kommen Sie mit zwölf Hemden in die Reinigung, und der freundliche Herr hinter der Theke nimmt Ihr Abo entgegen und berechnet Ihnen aber nicht die zwei zusätzlichen, sondern alle zwölf Hemden.» Jeder normale Kunde würde protestieren: «Gohts no?» Aber im öffentlichen Verkehr sollen die Kunden das hinnehmen.

Doch dagegen wehrt sich selbst unsere Landesregierung. Sie hat schon am 20. November 2019 festgehalten: Der Bundesrat erwarte «in der ganzen Schweiz ein einfaches, faires, nachvollziehbares und sowohl für die ÖV-Kundschaft als auch für die Steuerzahlenden kostengünstiges Tarif- und Distributionssystem».

Aber die Branche tut sich schwer. Der Verband öffentlicher Verkehr (VöV) beschäftigt sich zwar schon seit bald einem Jahrzehnt mit dem Tarifwirrwarr. Aber statt hier vorwärtszumachen, verstieg sich der VöV in der Folge der Postauto-Affäre und weiterer Verfehlungen bei der BLS, der SBB und den Luzerner Verkehrsbetrieben lediglich zur Forderung, die bislang unerlaubten Gewinne im Regionalverkehr künftig zu ermöglichen.

Zuschlag auf Zugtickets
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Finanzloch bei SBB:Zuschlag auf Zugtickets

Auch Apps sind nicht fairer

Inzwischen hat der Tarifdschungel mit CH-Direct und Alliance Swisspass noch Zuwachs erhalten. Letztere beantworteten die Fragen von Blick nicht, sondern reagierten mit allgemeinen PR-Floskeln: «Die Alliance Swisspass als Branchenorganisation hat sich den einfachen Zugang zum ÖV Schweiz als Vision gesetzt.»

Man passe das Sortiment laufend an. In diesem Zusammenhang erwähnenswert sei die schweizweite Einführung des «automatischen Ticketings», das bei der SBB unter dem Namen «EasyRide» läuft. «Mittels Check-in und Check-out via App ist sichergestellt, dass der Kundin oder dem Kunden am Ende des Tages automatisch der günstige Fahrausweis für die gefahrene Strecke verrechnet wird – unter Berücksichtigung vorhandener Abonnemente», so Swisspass-Sprecher Reto Hügli.

Preisüberwacher widerspricht

«Und genau das funktioniert eben nicht!», widerspricht der Preisüberwacher. Obwohl man ihm sage, dass die hinter «EasyRide» stehende Software von Fairtiq hierzu in der Lage sein müsste, klappe das nicht. Denn wer ein Zonenabo besitzt, kann es zwar in der SBB-App hinterlegen. Wer nun aber eine Zone weiterfahren will, als das Abo reicht, dem werde beim Buchen eben doch nicht automatisch das Anschlussbillett vorgeschlagen, «sondern man muss das Anschlussbillett aktiv auswählen», erklärt Meierhans.

Es stören sich zwar die Kunden an den Mehrkosten, sobald sie merken, dass sie zu viel bezahlen. Aber so manchem Fahrgast fällt das ja gar nicht auf. Und die von den Verkehrsverbünden beherrschte ÖV-Branche hat offensichtlich nichts dagegen, dass hie und da einer mehr berappt als nötig.

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