«Wir müssen überall sparen»
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Zwei Frauen erzählen von Armut:«Wir müssen überall sparen»

Armut in der Schweiz
«Meine Tochter fragt mich, warum wir immer das Gleiche essen»

Corona schürt alte Ängste: Arbeitslosigkeit! Armut! Dabei mussten sich schon vor der Pandemie immer mehr Menschen durchs Leben kämpfen. Eine Alleinerziehende, ein Sozialhilfeempfänger und eine ehemalige Obdachlose erzählen.
Publiziert: 22.11.2020 um 01:24 Uhr
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Aktualisiert: 01.04.2021 um 13:34 Uhr
Drei Betroffene erzählen, wie sie mit ihrer Armut zurecht kommen. Lilian Senn (63) lebte früher in Basel auf der Strasse.
Foto: STEFAN BOHRER
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Rebecca Wyss

In Annika Matters (40) Wohnzimmer steht kein Fernseher. Dafür radelt sie jede Woche mit ihren Kindern zur Bibliothek. Bildung ist ihr wichtig. Bildung ist das, was Annika Matter selbst als Kind nicht bekam. Sie musste nach neun Schuljahren arbeiten gehen. Annika war arm als Kind, ist arm als Erwachsene. Sie lebt als Alleinerziehende mit vier Kindern in einer verbilligten Wohnung. In den Zimmern stehen Kajütenbetten, vor der Haustür kleine Schuhe. Wo das fünfte Kind hinsoll, das sie im Bauch trägt, ist noch nicht klar. Bei einer Tasse Tee sagt Annika Matter aber:

«Auch das schaffe ich. Jetzt müssen wir fünf Jahre unten durch, dann wird es besser, dann sind die Kleinen grösser. Ich sage den Kindern immer: Es ist besser, wenn wir die Leiter langsam hochsteigen.»

Wegen Corona fallen so viele so tief wie noch nie. In Genf, Lausanne und Zürich bilden sich lange Menschenschlangen vor Essensausgaben. Selbständigen Taxifahrern, Coiffeuren und Kosmetikerinnen geht gerade der Schnauf aus, wie die Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich kürzlich bekannt gab. Und die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) rechnet bis 2022 mit fast 30 Prozent mehr Sozialhilfebezügern.

Plötzlich trifft es alle

Und so geht eine neue alte Angst um, die die Gesellschaft vor lauter Aufschwung schon fast vergessen hatte. Krankenpflegerinnen, die fiebrig zur Arbeit gehen, spüren sie jetzt genauso wie Frauen, die sich hinter der Supermarktkasse von Maskenverweigerern anhusten lassen müssen, oder Angestellte, die sich im Homeoffice nicht mehr trauen, den Computer zu schliessen. Die Angst heisst Jobverlust. Abstieg. Armut.

Dabei ist Armut in der Schweiz gar nichts Neues. Ein Armutsmonitoring der Berner Fachhochschule und der Caritas zeigt: Schon vor Corona lebte allein im Kanton Bern jeder Zehnte unter dem Existenzminimum. Das sind 860'000 Menschen auf die Schweiz gerechnet. Besonders betroffen sind alleinerziehende Mütter, ältere Ausgesteuerte und Menschen mit wenig Bildung, davon viele mit Migrationshintergrund.

Es sind Menschen wie Annika Matter, T. Klarer (60) und Lilian Senn (63) – eine Alleinerziehende, ein Sozialhilfeempfänger und eine ehemalige Obdachlose. Sie geben der Armut in dieser Geschichte ein Gesicht. Eines, das man sonst selten sieht. Armutsforscher Franz Schultheis (66) weiss weshalb: «Armut wird in reichen Ländern als Problem unterschätzt, weil sie versteckt ist. Arme Menschen demonstrieren nicht auf der Strasse, sie ziehen sich hinter ihre Gardinen zurück. Sie tragen unbewusst dazu bei, dass das Phänomen Armut nicht wahrgenommen wird.»

Weil sie sich schämen. Annika Matter ist ein Pseudonym. An ihrem Arbeitsplatz im Verkauf weiss niemand, dass ihre Familie nach Abzug von Miete, Krankenkasse und Hort von 2150 Franken im Monat lebt. Auch in ihrem Stadtzürcher Quartier nicht.

«Dann gibt es kein Gschnorr, verschtahsch. Durch meinen Job bekomme ich Anerkennung, sonst wäre ich einfach nur arm. Deshalb will ich keine Sozialhilfe. Wenn du in prekären Verhältnissen aufgewachsen bist, ist das viel wert. Manchmal würde ich gerne schreien und sagen: Schaut, was ich hier leiste. Aber die Leute verstehen nicht, wie es sein kann, dass jemand in der reichen Schweiz kämpfen muss.»

Die 63-jährige Lilian Senn bekam das als Obdachlose zu spüren. Über vier Jahre verbrachte sie in Basel auf der Gasse. Heute ist sie «Surprise»-Stadtführerin, lebt mit ihrer «grossen Liebe Heiko» in einer Wohnung, teilt sich mit ihm 2700 Franken im Monat. Jetzt sitzt sie im Garten der Basler Gassenküche «Soup & Chill», an ihrem Ohrläppchen baumelt ein Perlenohrring.

«Mir hat man die Obdachlosigkeit nicht angesehen. Es ist ein Klischee, dass Obdachlose riechen und verwahrlost sind. Alle misstrauen dir, wenn du auf der Gasse lebst. Ich habe mich an vielen Orten nicht willkommen gefühlt. Wenn ich Glück hatte, durfte ich mich im Winter für ein paar Stunden unbehelligt in einem Café aufwärmen.»

Auf der Gasse musste Lilian Senn ständig Angst haben, dass jemand ihren Schlafplatz findet und ihre Habseligkeiten stiehlt. Und als sie später mit ihrem Liebsten in eine Wohnung ziehen konnte, war es beängstigend, wieder Wände um sich herum zu haben. Die ersten Nächte verbrachte er auf dem Balkon.

Lilian Senn führte einmal ein geordnetes Leben, verheiratet, mit zwei Söhnen und einem guten Job als Personalchefin. Dann scheiterte die Ehe, ein Burnout warf sie aus der Bahn, und anstatt es aufzuarbeiten, stürzte sie sich in ein berufliches Projekt, das ihr einen riesigen Schuldenberg einbrachte. Am Ende blieben ihr zwei Koffer und ein Rucksack.

Arme werden kleingemacht

Heute sitzt sie noch immer auf 80'000 Franken Schulden – weil sie damals als Obdachlose die Krankenkassenprämien nicht bezahlen konnte.

«Ich sag dir, was das Schweizer System mit einem macht: Du wirst gemolken wie eine Kuh.»

Die Schweiz hat ein verkorkstes Verhältnis zu ihrer Armut. Wir alle verdrängen sie. Wir reden sie klein oder machen Betroffene klein. Wer nicht arbeitet, gilt als faul, hat sich zu wenig bemüht. Armutsforscher Franz Schultheis sagt: «In der Schweiz herrscht ein stärkeres Arbeitsethos vor als in vielen anderen Ländern, weil sie protestantisch geprägt ist. Der Schweizer Protestantismus war dem Kapitalismus förderlich. Durch Arbeit verwirklichten sich die Protestanten im irdischen Dasein, um im Himmel einen Platz zu erwerben.»

Übersetzt heisst das: Wer nicht arbeitet, kommt in die Hölle. Was davon übrig geblieben ist, zeigen die Sozialhilfe-Debatten in Bern, Zürich, Baselland und im Aargau. Immer ging es um Kürzungen. Immer mit dem gleichen Argument: Wer von der Sozialhilfe unterstützt werde, liege in der sozialen Hängematte. Dem vergehe die Lust aufs Arbeiten.

Dabei ist diese Hängematte löchrig.

Zahlen der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe zeigen: Eine Einzelperson muss nach Abzug von Miete und Krankenkasse mit einem Grundbedarf von 997 Franken und eine vierköpfige Familie mit 2134 Franken auskommen. In einer Studie aus dem letzten Jahr kommt die SKOS zum Schluss: Das Geld reicht nicht.

Und die Bezüger zahlen einen hohen Preis.

Sobald sie den Kopf wieder über Wasser bekommen, müssen sie in vielen Kantonen das Geld zurückzahlen. Vor allem in der Inner- und Ostschweiz.

Und sie müssen ihre Freiheit aufgeben. Das Sozialamt hat das Sagen. Es bestimmt über jede noch so kleine Summe, die die Bezüger verdienen. Darüber, wie sie wohnen: In Graubünden musste laut dem «Beobachter» ein Lehrling auf Befehl der Gemeinde für 500 Franken eine neue Wohnung finden – was unmöglich war. Und das Sozialamt bestimmt darüber, was sie arbeiten.

Er will arbeiten, darf aber nicht

T. Klarer aus Basel will sich mit einer eigenen Treuhand-Software selbständig machen, eine Einzelfirma gründen, er will «Gas geben». Doch das Basler Sozialamt lässt ihn nicht. Es will eine «Marktverzerrung» verhindern, schreibt es auf Anfrage. Der 60-Jährige soll als Sozialhilfebezüger niemanden konkurrenzieren.

«Jetzt zahlt der Steuerzahler für mich, dabei will ich das gar nicht. Das Schweizer Sozialsystem gibt Menschen über 55 auf.»

Wer mit über fünfzig aussortiert wird, findet oft keine Arbeit mehr. Das zeigen Studien. Heidi Joos (65) berät viele von ihnen. Die ehemalige Kantonsrätin und Expertin für Arbeitsmarktintegration beim Kanton Luzern gründete vor acht Jahren den Verein Avenir 50 plus – aus Betroffenheit. Auch sie fand keine Stelle mehr, musste aufs Sozialamt. «Vielen Betroffenen sieht man die Armut nicht an. Sie haben daheim im Schrank vielleicht ein Armani-Tschöpli. Armut hat ein neues Gesicht: über 55 und gut qualifiziert.»

Im Sommer brachte das Parlament die Überbrückungsrente auf den Weg. Sie soll künftig Arbeitslose, die nach sechzig ausgesteuert werden, bis zum Alter der Frühpensionierung auffangen. Für T. Klarer kommt sie zu spät.

Seine Geschichte gäbe Stoff für einen Film her. Der Ökonom führte zwanzig Jahre lang eine eigene Treuhandfirma, besass drei Autos und eine Ferienwohnung nahe Gstaad. Mit fünfzig wollte er es noch mal wissen, verkaufte alles und zog nach Thailand. Auf der Insel Koh Samui betrieb er erfolgreich ein Hotel. Bis er alles verlor. Weil das Gebäude schlecht gebaut war. Und weil er den falschen Leuten vertraut hatte. In der Schweiz kämpft er nun mit dem Sozialamt. Um seine berufliche Selbständigkeit. Und weil er keine günstigere Wohnung findet.

«Ich fühle mich wie auf einem Tennisplatz. Das Sozialamt macht einen Schlag nach dem anderen, und ich wehre die Bälle ab.»

Scham, Schikane und Rückzahlungspflicht – all das macht Angst. Und es schreckt ab.
Das Armutsmonitoring der Berner Fachhochschule zeigt: 37 Prozent jener, die Anspruch hätten, verzichten auf Sozialhilfe. Armutsforscher Schultheis fordert deshalb eine Reform der Sozialhilfe: «Die Kantone und Gemeinden sollten die Rückzahlungspflicht der Gelder aufheben.»

Durch die Sozialhilfe wird man nicht weniger arm, sondern ein anerkannter Armer. Sie sichert die Existenz. Der Mensch lebt aber nicht von Brot allein. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Armut schliesst Menschen aus der Gesellschaft aus. Wer jeden Rappen umdrehen muss, trinkt kein Bier mit Arbeitskollegen. Geht nicht mit Freunden essen oder ins Kino.

T. Klarers Verlobte lebt in Thailand. Als Sozialhilfeempfänger darf er sie nicht in die Schweiz holen. Er kommt kaum noch unter Leute.

«Ich vereinsame. Und ich werde depressiv.»

Annika Matter spürt ständig, dass sie nicht dazugehört. Im Bio-Laden gegenüber kauft das ganze Haus ein, sie kennt ihn nur von aussen.

«Meine Tochter fragt mich manchmal, warum wir immer das Gleiche essen. Sie vergleicht sich immer mehr mit ihren Schulfreundinnen. Eine hat zwei Mami und zwei Papi, eine Regenbogenfamilie, alles Studierte, alle mit super Jobs, dreimal im Jahr Ferien. Sie holen ihr Brot beim teuren John Baker. Ich in der Migros.»

Annikas Tochter hätte gerne Linsen. Aber Linsen sind zu teuer, genauso wie Gemüse und Fleisch. In Matters Küchenschrank stehen Packungen voller Nudeln und Reis – das meiste Aktion. Sie kocht oft Eintöpfe, das sättigt, reicht Brot dazu, das stopft. Und misst die Portionen ab, die sie schöpft. Kinderkleider kauft sie in Dunkelblau, damit Buben und Mädchen sie tragen können.

Arme Mütter, arme Kinder

144'000 Kinder und Jugendliche gelten in der Schweiz als arm. Die Musikerin Steff
la Cheffe (33) erzählte einmal einem «Magazin»-Journalisten, was das heisst.

Als Kind mit einer alleinerziehenden Mutter lebten sie fünf Jahre lang von der «Soz». Manchmal schämte sie sich, arm zu sein. Weil man nicht mitmachen kann, wo man als Kind in der Schweiz mitmachen will, Ferien, Markenkleider, mal ein Znüni-Brötli von der Bäckerei. Sie lernte: «Frauen sind die, die den Shit zusammenhalten, zwei Jobs, drei Kinder, und am Abend machen sie noch Düdüdüüü und verbreiten gute Laune.»

Annika Matter jammert nicht. Sie ist stolz. Darauf, dass sie all ihre Möbel aus dem eigenen Sack bezahlt hat. Dass sie so «tolle Kinder» hat, die genauso abenteuerlustig sind wie sie. Mit ihnen fährt sie bei jedem Wetter in den Wald, Schlangenbrot bräteln. Mit ihnen haut sie immer mal wieder ins Ausland ab – dank SBB-Sparbilletten. Den einzigen Luxus, den sie sich gönnt.

«In der Corona-Zeit sind viele Mütter im Quartier am Anschlag. Sie klagen, weil sie keinen Mami-Abend mehr mit ihren Freundinnen machen können. Ich selbst habe keine Zeit für mich. Telefonieren tu ich fast nie, weil die Kinder dann das Gefühl haben, das Telefon sei wichtiger als sie, und anfangen, Gugus zu machen.»

Zuerst kommen die Kinder. Immer. Im Sommer stösst noch eines dazu, es entstand während einer guten Phase mit dem Vater ihrer Kinder, von dem sie getrennt lebt. Wegen Corona kamen sie sich näher. Aber nur kurz. Auch dieses Kind wird sie allein grossziehen. Sie fürchtet sich aber nicht.

«Ich bin in Krisen gross geworden. Das ist nicht nur schlecht. Nur jemand, der Leidensdruck hat, will etwas ändern.»

Vielleicht bringt Corona neben all dem Leid etwas Gutes hervor. Spätestens jetzt spüren wir: Armut kann jeden treffen. Armut ist kein Selbstverschulden. Vielleicht führt das zu mehr Akzeptanz. Vielleicht geht daraus ein besseres Sozialsystem hervor. So wie unser jetziges entstand: Der erste Fonds für die Arbeitslosenfürsorge war eine Reaktion auf die Massenarbeitslosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg.

Das müssen Sie zur Armut in der Schweiz wissen

10 Prozent
sind laut einer aktuellen Studie der Caritas und Berner Fachhochschule armutsbetroffen. Bisher ging der Bund von acht Prozent aus – also 660'000 Menschen.


100 Menschen
sind obdachlos, 200 haben keine eigene Wohnung. Das ergab die einzige Schweizer Obdachlosen-Studie für die Stadt Basel. Nur jede fünfte ist eine Frau. Aus Gründen der Sicherheit stützen sie sich finanziell mehr auf ihr enges Umfeld als Männer.


30 Prozent
der Sozialhilfebezüger sind Kinder.


7 Franken
pro Tag stünden einer vierköpfigen Familie zur Verfügung, würde die Sozialhilfe um acht Prozent kürzt werden. Dieses Vorhaben lehnte das Berner Stimmvolk nach einer hitzigen Debatte 2019 ab. In den Kantonen Baselland und Aargau hingegen sind Kürzungen aufgegleist.


50 Jahre
Rund die Hälfte jener, die mit 50 arbeitslos werden, haben mit 60 Jahren noch immer keine Arbeit. Jeder Fünfte bezieht eine IV-Rente. Das zeigt eine Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco).

10 Prozent
sind laut einer aktuellen Studie der Caritas und Berner Fachhochschule armutsbetroffen. Bisher ging der Bund von acht Prozent aus – also 660'000 Menschen.


100 Menschen
sind obdachlos, 200 haben keine eigene Wohnung. Das ergab die einzige Schweizer Obdachlosen-Studie für die Stadt Basel. Nur jede fünfte ist eine Frau. Aus Gründen der Sicherheit stützen sie sich finanziell mehr auf ihr enges Umfeld als Männer.


30 Prozent
der Sozialhilfebezüger sind Kinder.


7 Franken
pro Tag stünden einer vierköpfigen Familie zur Verfügung, würde die Sozialhilfe um acht Prozent kürzt werden. Dieses Vorhaben lehnte das Berner Stimmvolk nach einer hitzigen Debatte 2019 ab. In den Kantonen Baselland und Aargau hingegen sind Kürzungen aufgegleist.


50 Jahre
Rund die Hälfte jener, die mit 50 arbeitslos werden, haben mit 60 Jahren noch immer keine Arbeit. Jeder Fünfte bezieht eine IV-Rente. Das zeigt eine Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco).

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