BAG-Chefin Anne Lévy im ersten grossen Interview
«Es sieht nach einer Trendwende aus»

Im ersten grossen Interview seit ihrem Amtsantritt redet die neue Direktorin des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) über die aktuelle Corona-Lage, die bevorstehenden Wintermonate und die nahende Impfung.
Publiziert: 22.11.2020 um 01:10 Uhr
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Aktualisiert: 24.11.2020 um 10:49 Uhr
Interview: Fabian Eberhard

SonntagsBlick: Frau Lévy, die Zahl der Ansteckungen nimmt in vielen Kantonen ab. Sind dies erste Zeichen einer Entspannung?
Anne Lévy: Die Entwicklung stimmt mich tatsächlich vorsichtig optimistisch, es sieht nach einer Trendwende aus. Aber in ein paar Kantonen steigen die Zahlen weiterhin.

Hoch sind vor allem auch die Zahlen der Hospitalisierungen und der Todesfälle.
Ja, und das macht uns grosse ­Sorgen. Doch die Pandemie hat uns gelehrt, dass sie mit einer ge­wissen Verzögerung sinken. Wir müssen die Entwicklung in den kommenden Tagen und Wochen nun genau beobachten.

Aber die Pandemie hat uns doch auch gelehrt: Tempo ist alles, ­abwarten tödlich. Sollte der Bund nicht härtere Massnahmen beschliessen, um die Zahlen möglichst rasch runterzu­bringen? Die Intensivstationen stossen vielerorts an ihre Grenzen.
Der Lead liegt bei den Kantonen. Und die Kantone mit sehr vielen Fällen – ich denke da vor allem an die Romandie – haben ja auch ­entsprechend strikte Massnahmen erlassen. Und das mit Erfolg: Die Fälle gehen zurück.

Anne Lévy hat im Oktober ihr neues Amt als BAG-Chefin angetreten – und wurde mitten in die zweite Corona-Welle katapultiert.
Foto: Keystone
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Doch in nahezu keinem anderen Land sterben im Verhältnis zur Einwohnerzahl zurzeit so viele Menschen am Coronavirus wie bei uns. Im Klartext heisst das doch: Wir opfern ältere Menschen, damit die Wirtschaft am Laufen gehalten werden kann.
Wir stehen nicht wesentlich schlechter da als das europäische Ausland. Aber jeder verfrühte ­Todesfall ist ­einer zu viel, sehr ­tragisch und muss verhindert werden. Die Übersterblichkeit macht uns grosse Sorgen. Trotzdem bin ich zuversichtlich, dass wir momentan in die richtige Richtung ­gehen. Zentral ist ja auch, dass die Bevölkerung die Mass­nahmen ­mitträgt.

Sie schliessen einen landes­weiten Lockdown also aus?
In dieser Krise schliesse ich überhaupt nichts mehr aus. Wir müssen von Tag zu Tag entscheiden. Ziel Nummer eins ist es jetzt, die Zahlen der Hospitalisierungen und der ­Todesfälle herunterzubringen. ­Gelingt uns das nicht, braucht es ­Verschärfungen.

Der österreichische Gesundheitsminister Rudolf Anschober kritisierte die Schweiz als Negativbeispiel. Sind wir das neue Schweden?
Bei uns gehen die Zahlen nach ­unten, in Österreich steigen sie. Aber ich finde es müssig, die einen gegen die anderen auszuspielen. Jedes Land fährt seine eigene ­Strategie. Unsere ist richtigerweise regional unterschiedlich. Das ist sinnvoll, da zwischen den Kan­tonen grosse Unterschiede im Infektionsgeschehen bestehen. Noch einmal: Einschränkungen nützen nur, wenn die Bevölkerung sie auch akzeptiert. Die Menschen in Genf, wo es extrem viele Fälle gibt, ­können nachvollziehen, dass die Restaurants schliessen müssen. In ­anderen Kantonen hingegen, wo wir im Verhältnis zur Einwohnerzahl deutlich weniger Fälle haben, hätten die Menschen allenfalls kein Verständnis dafür.

Kurz nachdem Sie Anfang Oktober Ihr Amt als BAG-Direktorin angetreten hatten, nahm die zweite Welle so richtig Fahrt auf. Haben Sie damit gerechnet?
Wir wussten, dass eine zweite ­Welle kommt. Und dass sie vermutlich heftiger sein wird als die erste.

Und trotzdem traf sie Bund und Kantone unvorbereitet.
Das würde ich so nicht sagen. Ich behaupte gar, wir waren im Vergleich zur ersten Welle gut vor­bereitet. Den Sommer hindurch ­haben die Kantone sowohl das ­Contact Tracing als auch die Testkapazitäten ausgebaut. Aber die Pandemie verhält sich leider nie ­genau so, wie man plant.

Die Ressourcen reichten nach wenigen Wochen nicht mehr aus.
Niemand hat damit gerechnet, dass die Zahlen so schnell ansteigen würden. Meine Lehre aus der Krise ist: Man kann sich noch so gut vorbereiten, auf alles gefasst ist man am Ende doch nicht. Das ist ja quasi die ­Definition einer Krise. Somit sind wir immer am Nachjustieren.

Bei den Tests weist die Schweiz noch immer eine Positivitätsrate von 20 Prozent auf. Viel zu viel! Müsste nicht deutlich mehr getestet werden?
Doch. Und mit den neuen Schnelltests wäre das eigentlich auch möglich. Zurzeit könnten täglich bis zu 70 000 Tests durchgeführt werden.

Und warum wird das nicht getan?
Weil sich offenbar nicht alle testen lassen, die es tun sollten. Warum, wissen wir nicht. Ich möchte die Bevölkerung deshalb aufrufen: Lassen Sie sich testen, wenn Sie Symptome haben – auch leichte. Ich fürchte, die meisten warten zu lange ab und hoffen, dass es nicht Corona ist und dass es vorbeigeht. Damit geht wertvolle Zeit verloren und man riskiert, andere anzu­stecken.

Blicken wir nach vorne. Die wissenschaftliche Taskforce rechnet mit Einschränkungen bis mindestens im Frühling. Worauf müssen wir uns einstellen?
Ich befürchte, dass die Ausnahmesituation noch länger dauern wird. Genaue Prognosen wage ich in ­dieser Krise allerdings keine. ­Sicher ist leider: Die Adventszeit wird hart – für uns alle. Wir dürfen jetzt nicht die Geduld verlieren.

Also keine Weihnachten mit der Grossfamilie?
Das Fest wird zumindest anders, als wir es uns gewohnt sind. Die Vorschriften sind klar: Treffen von höchstens zehn Leuten, Abstand halten, wo nötig Maske tragen.

Weihnachten mit der ganzen Familie
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Wie geht das zu Corona-Zeiten?Weihnachten mit der ganzen Familie

Ein Lichtblick bietet die nahende Impfung. Wann werden die ersten Risikopersonen in der Schweiz geimpft?
Solche Prognosen überlasse ich den Impfproduzenten.

Die kündigen erste Impfungen für das Frühjahr an.
Ja, sie sind optimistisch. Ich bin ­zuversichtlich, dass wir eine Im­pfung haben werden, auch wenn niemand weiss, wann es genau sein wird.

Die Schweizerinnen und Schweizer sind vergleichsweise impfskeptisch. Macht Ihnen das Sorgen?
Ich bin der festen Überzeugung, dass das Vertrauen der Bevöl­kerung vorhanden ist und sich die Leute impfen lassen werden. Nur so ­können wir in ein normales Leben zurückfinden.

Die Angst vor Nebenwirkungen ist allerdings weit verbreitet. Auch weil die Entwicklung der Impfstoffe diesmal so schnell ging.
Ich kann Ihnen versichern: So­lange wir die Nebenwirkungen und die Gefahren einer Corona-Impfung nicht abschätzen können, kommt eine solche auch nicht auf den Markt. Der Impfstoff, der in der Schweiz zugelassen wird, wird sicher und wirksam sein.

Planen Sie ein Impfobligatorium?
Das ist derzeit kein Thema.

Es dürfte aber eines werden.
Ein Obligatorium kann je nach Lage in speziellen Situationen Sinn machen. Das hätte allerdings nichts mit einem Impfzwang zu tun, wie es von manchen Kreisen suggeriert wird. Gestützt auf das Epidemien­gesetz können Bund oder Kantone beschliessen, dass gewisse Funk­tionen nur von geimpften Personen ausgeübt werden können.

Pflegeberufe zum Beispiel.
Wie gesagt, da ist noch nichts ­entschieden. Diese Diskussion würden wir auch mit den betroffenen Personen und Spitälern führen.

Impfgegner machen bereits ­mobil – teils mit anti­semitischer Propaganda und Holocaust-Verharmlosungen. Etwa dem Spruch «Impfen macht frei». Sie sind ­Jüdin, wie sehr verletzt sie das?
Ach, wissen Sie, eine kleine Minderheit mit extremistischen Posi­tionen gibt es immer bei solch ­emotionalen Themen. Ich war lange im Bereich Psychiatrie tätig, da ist das ähnlich. Ich erfreue mich ­lieber an der grossen Mehrheit, welche die Massnahmen mitträgt.

Ihr Vorgänger, der ehemalige BAG-Direktor Pascal Strupler, sagte einmal: «Kommunikation gehört nicht zu meinen grossen Qualitäten.» Wie ist es bei Ihnen?
(Lacht) Das müssen Sie beur­teilen …

Bis jetzt halten Sie sich auffällig im Hintergrund. Müsste die BAG-Chefin nicht zu einem Gesicht dieser Krise werden, die Bevölkerung da quasi durchbegleiten?
Das tue ich ja momentan, indem ich mit Ihnen spreche. Während der ersten Welle war ein Gesicht sinnvoll. Da wusste niemand, womit wir es zu tun haben. Die Leute brauchten Führungsfiguren, an ­denen sie sich orientieren konnten.

Und heute?
Heute haben wir schon ein wenig gelernt, mit dieser ausserordent­lichen Situation zu leben. Und als Amt sind wir ja nach wie vor sehr präsent.

Ist einer der Gründe nicht auch, dass Sie Politikwissenschaftlerin sind und Ihnen teils das medi­zinische Wissen fehlt?
Ich bin seit über zwanzig Jahren im Gesundheitsbereich tätig und ­Spezialistin im Bereich Public Health. Aber natürlich, es ist unmöglich, als BAG-Direktorin in ­allen Gebieten, die das Amt abdeckt, Spezialistin zu sein. Dafür haben wir ja auch ganz viele hervorragende Expertinnen und Experten im BAG. Auf deren Fach­wissen kann ich mich stets ab­stützen.



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