«Ich hoffe, dass die Solidarität anhält»
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Neue Präsidentin des SRK:«Ich hoffe, dass die Solidarität anhält»

Barbara Schmid-Federer ist neue Präsidentin des Schweizerischen Roten Kreuzes
«Ich hatte ein Schlüsselerlebnis»

Barbara Schmid-Federer (56), neue Präsidentin des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK), sagt im Gespräch, wie sie das Leid vieler Menschen aushält und was sie am meisten fürchtet.
Publiziert: 25.06.2022 um 14:39 Uhr
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Aktualisiert: 25.06.2022 um 16:47 Uhr
Interview: Silvia Tschui

Als Erstes: Gratulation zur Präsidentschaft des Schweizerischen Roten Kreuzes!
Barbara Schmid-Federer: Danke. Ich freue mich sehr!

Sie sind ursprünglich Literaturwissenschaftlerin. Wie kommt man von der Literatur zu Hilfsorganisationen?
Literatur wird oft unterschätzt. In der Literatur erlebt man eine kulturelle Diversität.

Das müssen Sie bitte näher erklären.
Es geht in der Literatur oft um andere Kulturen und um die Umstände der Schwächeren. Wenn man viel liest, lernt man die Geschichten und auch Leidensgeschichten von diversen Menschen kennen und fühlt ihnen nach. Es gibt auch in der Philosophie die Ansicht, dass Literatur die Schule der Empathie sei, also die Möglichkeit, sich überhaupt in jemanden hineinzufühlen. Das ist keine schlechte Voraussetzung, um schliesslich bei einer humanitären Organisation zu arbeiten. Ich habe schon immer nebenher bei NGOs gearbeitet.

Barbara Schmid-Federer ist neue Präsidentin des Schweizerischen Roten Kreuzes.
Foto: Daniel Kellenberger
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Wie kam das?
Ich hatte ein Schlüsselerlebnis. Mein Onkel war Botschafter in Äthiopien, und ich war mit zwanzig dort. Ich habe einen gelähmten elfjährigen Jungen kennengelernt, der aus einem Kriegsgebiet als Vollwaise zu uns transportiert wurde. Er hatte niemanden mehr auf der Welt, und sein ganzer Besitz waren die Fetzen, die er trug, und ein Plastiksäckli mit einem Laib Brot darin. Als wir ihn ins Heim brachten, waren alle gerade am Essen. Wir haben ihn hingesetzt, und er hat mit dem schönsten Lachen, das ich je gesehen habe, in seine Plastiktüte gegriffen und sein Brot an alle verteilt. Das war der Moment, in dem ich wusste: Ich muss den Menschen, denen es nicht gut geht, etwas Gutes tun.

Barbara Schmid-Federer

Barbara Schmid-Federer (56) ist seit gestern die neue Präsidentin des Schweizerischen Roten Kreuzes. Sie studierte in Zürich, Paris und Granada vergleichende Literaturwissenschaft und Romanistik. Von 2007 bis 2018 amtierte sie als Nationalrätin, zuletzt als Mitglied der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit. Sie war Co-Präsidentin der parlamentarischen Gruppe Familienpolitik und Vorstandsmitglied bei Alliance F. Sie ist zudem Mitglied des Verwaltungsrates der TopPharm Apotheke Paradeplatz, Zürich. In ihrer Freizeit liest sie viel und singt in einem Chor.

Das ist die neue Präsidentin des Schweizerischen Roten Kreuzes: Barbara Schmid-Federer
Daniel Kellenberger

Barbara Schmid-Federer (56) ist seit gestern die neue Präsidentin des Schweizerischen Roten Kreuzes. Sie studierte in Zürich, Paris und Granada vergleichende Literaturwissenschaft und Romanistik. Von 2007 bis 2018 amtierte sie als Nationalrätin, zuletzt als Mitglied der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit. Sie war Co-Präsidentin der parlamentarischen Gruppe Familienpolitik und Vorstandsmitglied bei Alliance F. Sie ist zudem Mitglied des Verwaltungsrates der TopPharm Apotheke Paradeplatz, Zürich. In ihrer Freizeit liest sie viel und singt in einem Chor.

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Da kommen einem fast die Tränen! Dennoch: Als Präsidentin des Schweizerischen Roten Kreuzes werden Sie täglich mit dem Leid unzähliger Menschen konfrontiert. Wie halten Sie das psychisch aus?
Eigentlich bekommen das ja alle Menschen mit, via Zeitungen und Nachrichten. Es ist fast unmöglich, sich von Krieg, Hunger und den Folgen des Klimawandels abzuschotten. Für mich ist es so: Wenn ich solches Leid sehe oder davon höre, dann will ich ganz an die Basis hinunter, um es zu verstehen und etwas tun zu können.

Können Sie da ein konkretes Beispiel geben?
Bis anhin war ich Präsidentin des Zürcher Roten Kreuzes. Da haben wir eine Institution, die Menschen hilft, die durch alle sozialen Netze gefallen sind. Ich habe dort eine Frau kennengelernt, die jahrzehntelang unter schwersten Depressionen litt und deren Familie sie bereits aufgegeben hatte. Unsere Struktur konnte ihr wieder einen Sinn im Leben geben. Eine solche Frau dann wieder lachen zu sehen und zu wissen, dass ich an Strukturen mitgearbeitet habe, die dies ermöglichen, das geht mir sehr nahe.

Worauf freuen Sie sich am meisten beim Schweizerischen Roten Kreuz?
Den Grund von Leid zu verstehen – und dann etwas zu verändern und Menschen tatsächlich helfen zu können. Das gibt meinem Leben Sinn.

Hat das einen religiösen Hintergrund? Sie waren CVP-Nationalrätin, Ihr Bruder ist Abt des Klosters Einsiedeln.
Persönlich schöpfe ich Kraft aus der Religion. Das Schweizerische Rote Kreuz ist aber konfessionell und politisch neutral. Wir handeln nach den sieben Rotkreuzgrundsätzen.

Die sieben (gekürzten) Grundsätze des IKRK

Das Internationale Rote Kreuz handelt nach sieben Grundsätzen:

  1. Menschlich handeln, also menschliches Leid überall und für alle verhindern.
  2. Unparteilich handeln: Die Rotkreuzbewegung unterscheidet nicht nach Nationalität, Rasse, Religion, sozialer Stellung oder politischer Überzeugung.
  3. Neutralität: Handeln, ohne Partei zu ergreifen.
  4. Unabhängigkeit: Das IKRK ist nicht von nationalen Behörden abhängig.
  5. Freiwilligkeit: Unentgeltliche Hilfeleistung ohne Gewinnstreben.
  6. Einheit: In jedem Land gibt es nur eine Rotkreuz-Organisation, die allen offen steht und allen hilft.
  7. Universalität: Das IKRK ist weltumfassend. Alle haben die Pflicht, einander zu helfen.

Das Internationale Rote Kreuz handelt nach sieben Grundsätzen:

  1. Menschlich handeln, also menschliches Leid überall und für alle verhindern.
  2. Unparteilich handeln: Die Rotkreuzbewegung unterscheidet nicht nach Nationalität, Rasse, Religion, sozialer Stellung oder politischer Überzeugung.
  3. Neutralität: Handeln, ohne Partei zu ergreifen.
  4. Unabhängigkeit: Das IKRK ist nicht von nationalen Behörden abhängig.
  5. Freiwilligkeit: Unentgeltliche Hilfeleistung ohne Gewinnstreben.
  6. Einheit: In jedem Land gibt es nur eine Rotkreuz-Organisation, die allen offen steht und allen hilft.
  7. Universalität: Das IKRK ist weltumfassend. Alle haben die Pflicht, einander zu helfen.
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Was sind die grössten Aufgaben, die auf Sie zukommen?
Es sind die gleichen Aufgaben, die auf die Schweiz und die ganze Welt zukommen: Wir rüsten uns für die Folgen des Klimawandels. 80 Prozent aller Katastrophen sind heutzutage wetterbedingt, und das wird zunehmen. 3,3 Milliarden Menschen auf der Welt, knapp die Hälfte der Weltbevölkerung, werden existenzielle Probleme wegen des Klimawandels bekommen oder haben sie bereits. Und es trifft zuerst die, die sowieso schon am verletzlichsten sind. Zum Beispiel sind wir in Äthiopien gerade sehr aktiv.

Was tun Sie da genau?
Da handelt es sich um Soforthilfe, also Medikamente abgeben, die Sicherstellung von sauberem Trinkwasser, die Entfernung von Tierkadavern, um das Trinkwasser sauber zu halten, Nahrungshilfe etc.

Langfristig sind aber solche Aktionen doch so, als würde man ein Pflästerli auf einen riesigen inneren Abszess kleben, oder?
Ja, Nothilfe und Soforthilfe braucht es aber immer. Dafür sind wir da. Wir engagieren uns auch in langfristigen Projekten und bauen in Bolivien Gesundheitsdienste auf. Künftig braucht es mehr Entwicklungszusammenarbeit.

Ist das nicht arrogant von uns? Westliche Länder haben diese Länder ausgebeutet und deren Strukturen zerstört, und jetzt soll der gute, besser wissende weisse Mensch der Bevölkerung dort sagen, wie sie es besser machen soll?
Früher war das wirklich so. Man hat sicher in der Vergangenheit viele Fehler gemacht, sowohl im Kolonialismus als auch in der Hilfeleistung. Da wollte man die Menschen dazu bringen, die Dinge so zu tun und zu organisieren wie wir. Heutzutage ist zum Glück ein Wandel geschehen: Entwicklungszusammenarbeit bezieht die lokale Bevölkerung in Entscheidungen mit ein. NGOs versuchen, die Menschen zu befähigen statt zu beeinflussen und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen.

Wo sehen Sie denn innerhalb der Schweiz die grössten Probleme?
Wir erleben wegen des Ukraine-Kriegs aktuell den grössten Flüchtlingsstrom seit dem Zweiten Weltkrieg. Dies ist aber erst der Anfang. Aufgrund des Klimawandels wird es noch viel grössere Migrationsströme geben. Meine grösste Sorge ist, dass die Solidarität abnimmt. Auch das ist eine Aufgabe des Roten Kreuzes, immer wieder an das Gute im Menschen zu appellieren, dass die Menschen sensibilisiert und hilfsbereit bleiben.

Und wie will das Rote Kreuz das schaffen?
Als Teil der internationalen Rotkreuzbewegung verfolgen wir eine gemeinsame Strategie, die wir national runterbrechen. Wir arbeiten mit diversen Forschungseinrichtungen zusammen und machen auf die vergessenen humanitären Krisen auf der Welt aufmerksam. Und wir setzen weiterhin auf unser Freiwilligennetz: Allein in der Schweiz engagieren sich aktuell über 50'000 Freiwillige.

Henry Dunant, Gründer des Roten Kreuzes

Der Schweizer Geschäftsmann Henry Dunant (1828–1910) wurde 1858 in der italienischen Stadt Solferino Zeuge einer Schlacht zwischen italienischen, französischen und österreichischen Truppen. Vom Leid der verwundeten Soldaten erschüttert, organisierte er Hilfe für alle. Aus dem Grundgedanken, allen neutral zu helfen, entstand das Internationale Rote Kreuz. Dunants Rolle geriet später in Vergessenheit, er lebte jahrzehntelang in bitterer Armut. Eine Zufallsbegegnung mit einem Journalisten, der seine Geschichte veröffentlichte, verhalf ihm zu spätem Ruhm. 1901 erhielt Henry Dunant den erstmals verliehenen Friedensnobelpreis.

Henry Dunant, Gründer des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK).
Corbis/VCG via Getty Images

Der Schweizer Geschäftsmann Henry Dunant (1828–1910) wurde 1858 in der italienischen Stadt Solferino Zeuge einer Schlacht zwischen italienischen, französischen und österreichischen Truppen. Vom Leid der verwundeten Soldaten erschüttert, organisierte er Hilfe für alle. Aus dem Grundgedanken, allen neutral zu helfen, entstand das Internationale Rote Kreuz. Dunants Rolle geriet später in Vergessenheit, er lebte jahrzehntelang in bitterer Armut. Eine Zufallsbegegnung mit einem Journalisten, der seine Geschichte veröffentlichte, verhalf ihm zu spätem Ruhm. 1901 erhielt Henry Dunant den erstmals verliehenen Friedensnobelpreis.

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Wann kommt eigentlich ein normaler Schweizer mit der Arbeit des Schweizerischen Roten Kreuzes in Kontakt?
Zum Beispiel wenn wegen einer Krankheit die Kinderbetreuung nicht mehr gewährleistet ist oder ein sonstiger Notfall eintritt. Dann unterstützen wir zu Hause, oder die Samariter sind zur Stelle. Wenn Menschen nicht mehr mobil sind, fahren unsere Freiwilligen vom Rotkreuz-Fahrdienst die Leute zu Arztterminen.

Sie sind auch Vizepräsidentin des Stiftungsrats der Pro Juventute. Was sind aktuell die grössten Herausforderungen für Schweizer Familien?
In der Corona-Pandemie haben sehr viele Jugendliche psychische Probleme bekommen. Und schon vorher gab es in der Jugendpsychiatrie je nach Kanton und Region viel zu wenig Plätze. Dieser Mangel ist nun akut.

Was tut die Pro Juventute dagegen?
Wir unterhalten unter anderem die Beratung 147. Dieses Angebot möchten wir gern noch bekannter machen. Unter dieser Nummer erhalten Jugendliche vertraulich und gratis sofort Beratung und Hilfe. Wir sehen übrigens direkt über dieses Angebot, wie sehr die psychische Gesundheit der Jugendlichen stark leidet.

Inwiefern?
Vor der Pandemie erreichten uns täglich vielleicht ein bis drei Anrufe suizidaler Jugendlicher. Mit dem Fortschreiten der Pandemie und bis jetzt sind es täglich sieben. Ein sehr grosser Anstieg. Ein grosses Problem sind das Internet und soziale Medien.

Da sind wir bei einem Thema angelangt, für das Sie sich als Politikerin seit Jahren einsetzen. Weshalb?
Ich habe zwei erwachsene Söhne. Als ich damals gesehen habe, welche Eindrücke, Bilder und Gefahren ungefiltert auf damals zehnjährige Kinder einprasseln können, wusste ich, dass ich handeln muss. Ich bin aber jahrelang mit dem Thema in der Politik auf Granit gestossen. Jetzt tut sich endlich etwas – das neue Jugendmedienschutzgesetz liegt vor den Räten. Ich bin optimistisch, dass es durchkommt.

Wie haben Sie Ihre eigenen Söhne vor diesen Inhalten bewahrt?
Durch viele Gespräche und durch gemeinsam erarbeitete Regeln. Zum Beispiel: Kein Handy gehört nachts ins Kinderzimmer.

Um nochmals aufs Rote Kreuz zurückzukommen: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Dass die Schweizer Bevölkerung solidarisch und menschlich bleibt.


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