«Für manche sind wir die einzigen Bezugspersonen»
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BLICK mit der Spitex auf Tour:«Für manche sind wir die einzigen Bezugspersonen»

Annelies Neier (38) betreut für die Spitex Kranke und Alte. In der Corona-Krise ist sie auch Seelsorgerin
«Für manche sind wir die einzigen Bezugspersonen»

Zu Hause gesund werden. Zu Hause sterben. Ohne die Spitex-Frauen und -Männer wäre das oftmals nicht möglich. Doch während der Pandemie leisten sie einen noch wichtigeren Dienst: Gesellschaft.
Publiziert: 06.12.2020 um 23:53 Uhr
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Aktualisiert: 10.12.2020 um 18:29 Uhr
Helena Schmid und Pascal Scheiber

Annelies Neier (38) hilft da, wo es alleine nicht mehr geht. Bei Martha Lehmann (91) schon vor dem Aufstehen. Es ist 7.30 Uhr, die Sonne versteckt sich noch hinter dem Bantiger-Hügel östlich von Uettligen, bei Bern. Die Seniorin liegt mit zerzausten Haaren im Bett und warnt: «Ich bin noch ein bisschen balabala.» Annelies Neier nimmt ein paar schwarze Socken vom Stuhl neben dem Bett. Stützstrümpfe.

Neier ist Spitex-Pflegerin. Sie hilft ihren Klienten beim Anziehen, Duschen, im Haushalt. Martha Lehmann protestiert: «Nicht die Socken, lieber die Strümpfe bei der Kälte.»

Erst wenige Wochen ist es her, dass sich die Seniorin mit dem Coronavirus infiziert hat. Atemnot, Spital, Isolation. «Das Schlimmste war das Gefühl beim Husten. Ich dachte stets: Jetzt ersticke ich.»

Annelies Neier (38) arbeitet bei der Spitex Bern-Nord.
Foto: Peter Gerber
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Laufen fällt ihr weiterhin schwer

Neier ist die Retterin in Not. Während der fünf Wochen Isolation waren die Spitex-Pfleger die einzigen Kontakte, die Lehmann noch blieben. Sie übernahmen alles: den Einkauf, die Pflege, den Haushalt. Und es war einer von ihnen, der die Sanitäter rief, als die Seniorin kaum mehr Luft bekam. «Mittlerweile geht es aber viel besser, nicht?», fragt Neier. Lehmann: «Nur das Laufen ist noch nicht dasselbe.»

Zwei Töchter, zwei Söhne, drei Enkel, fünf Urenkel – Lehmann gehört noch zu jenen, die ein stabiles soziales Umfeld haben. «Aber für manche sind wir die einzigen Bezugspersonen», so Neier.

Mittlerweile schimmert die Sonne als dünner Streifen über den Hügeln. Lehmann ist fertig angezogen und frühstückt. Die Spitex verabschiedet sich: «Pass auf das Glatteis auf!»

Lieber zu Hause, als im Spital

Neier ist die gute Freundin. Der «Engel in Weiss», wie sie die nächste Kundin nennt. Christin Guillaume (44) wohnt zwei Dörfer weiter – in Hinterkappelen BE. «Wenn die Spitex nicht wäre, würde ich im Spital liegen, statt hier zu Hause sein zu dürfen.»

Und zu Hause sein, bedeutet Guillaume viel. Ihre Wohnung ist liebevoll dekoriert. Zweimal pro Tag kommt die Spitex vorbei. Der Verband will gewechselt sein. Neier zählt die Tabletten in Guillaumes Schatullen. Stimmt alles. «Es sind immer die gleichen Frauen bei mir. Da baut man eine Beziehung auf, die mir viel bedeutet», sagt Guillaume.

«Gelernt, mich abzugrenzen»

Neier ist Bürokratin. Muss sie sein. 35 Minuten für Frau Lehmann, 40 bis 60 Minuten für Frau Guillaume. Mehr zahlt die Krankenkasse nicht. Für Überzeit müsste die Spitex aufkommen.

Die Tage sind durchgetaktet: Plaudern beim Verband wechseln, einen Witz erzählen, zuhören. Mehr geht nicht. «Ich habe gelernt, mich abzugrenzen und es auch mal gut sein zu lassen», sagt die Pflegefachfrau.

Sie steigt wieder ins Auto. Zurück Richtung Martha Lehmann. Es ist Tag. Das Wetter trüb. Annelies Neier ist froh um die kurze Pause. «Jeder meiner Kunden hat eine andere Situation, eine andere Geschichte. Dazwischen muss man durchschnaufen.»

Schicksale von Leben und Tod

Neier ist Krankenschwester. Sie betreut Senioren, die Haushalt und Hygiene nicht mehr alleine meistern können. Oder Jüngere, die sich von einem Unfall erholen. Und Kranke, die nie mehr gesund werden. «Wenn einer meiner Klienten stirbt, dann beschäftigt mich das. Klar. Dafür habe ich Kollegen, denen ich erzählen kann, was mich belastet.»

Katharina Lüthi (74) wohnt Tür an Tür mit Martha Lehmann. In ihrer kleinen Wohnung läuft der Fernseher, auf dem Tisch liegen Wolle und Stricknadeln.

«Huh, ist das kalt», ruft sie, als die Spitex-Mitarbeiterin ihr das Blutdruck-Messgerät am Arm befestigt: «Das mögen Sie nicht, ich weiss.» Lüthi lacht: «Da bekomme ich gleich einen Krampf!»

«Die Einsamkeit macht mir zu schaffen»

Neier ist Seelsorgerin. Bei Katharina Lüthi war sie aber schon lange nicht mehr, wie die Seniorin anmerkt. Drei Mal pro Woche wird sie von der Spitex besucht: zum Duschen, Haushalt machen und das Pflaster an der Beinprothese auswechseln.

Ein wenig Struktur im leeren Alltag. Lüthi kocht zu Hause, ihre Wohnung verlässt sie wegen der Pandemie ungern. «Die Einsamkeit macht mir zu schaffen», sagt sie. Bei der Spitex könne sie ihre Gefühle rauslassen. «Egal, wie es mir geht, es wird akzeptiert.»

Vier bis acht Kunden pro Morgen

An diesem Tag aber habe sie Pläne, sagt Katharina Lüthi. «Ich muss jetzt Mittagessen kochen und am Nachmittag kommt nochmals die Spitex fürs Duschen. Danach habe ich Feierabend.»

Feierabend. Das hat Neier noch lange nicht. An einem Morgen betreut sie vier bis acht Kunden. Dann Pause und am Abend noch einmal ein paar Besuche.

Draussen im Korridor trifft sie noch einmal auf Martha Lehmann. Sie komme gerade vom Coiffeur, ihr Sohn hätte sie gefahren. Damit endet Neiers Vormittag, wie er begonnen hat. Nur weniger zerzaust.

Damit es uns allen besser geht

Viele Menschen in der Schweiz leiden auch seelisch unter den Auswirkungen der Corona-Krise. Deshalb initiiert das Bundesamt für Gesundheit (BAG) den Aktionstag «Darüber reden. Hilfe finden». Er findet am 10. Dezember 2020 statt.

Die Hilfsorganisationen Pro Mente Sana, Dargebotene Hand, Pro Juventute, Pro Senectute, Caritas und das Schweizerische Rote Kreuz widmen sich gemeinsam mit vielen weiteren Akteuren den verschiedensten Aspekten des Themas psychische Gesundheit. Menschen in schwierigen Situationen sollen so Solidarität erfahren und über konkrete Hilfsangebote informiert werden. Der Tag sensibilisiert auch die Gesamtbevölkerung dafür, im Umfeld aufmerksam zu sein und Hilfe zu leisten.

BLICK macht dieses wichtige Thema zum Schwerpunkt und berichtet vor, während und nach dem Aktionstag ausführlich darüber.

Weitere Informationen unter https://bag-coronavirus.ch/hilfe/

Viele Menschen in der Schweiz leiden auch seelisch unter den Auswirkungen der Corona-Krise. Deshalb initiiert das Bundesamt für Gesundheit (BAG) den Aktionstag «Darüber reden. Hilfe finden». Er findet am 10. Dezember 2020 statt.

Die Hilfsorganisationen Pro Mente Sana, Dargebotene Hand, Pro Juventute, Pro Senectute, Caritas und das Schweizerische Rote Kreuz widmen sich gemeinsam mit vielen weiteren Akteuren den verschiedensten Aspekten des Themas psychische Gesundheit. Menschen in schwierigen Situationen sollen so Solidarität erfahren und über konkrete Hilfsangebote informiert werden. Der Tag sensibilisiert auch die Gesamtbevölkerung dafür, im Umfeld aufmerksam zu sein und Hilfe zu leisten.

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