Beat Cattaruzza kämpft gegen Herzlos-Entscheid seiner Amtskollegen in Nidau BE
Sie schliessen Baracke von Obdachlosem – für Bootsplätze!

Die Gemeinde Nidau BE setzt den obdachlosen Jörg G.* (66) bei Minusgraden auf die Strasse. So geht das nicht, findet Gemeinderat Beat Cattaruzza. Nun hat er sogar eine Aufsichtsbeschwerde gegen seine eigene Gemeinde eingereicht.
Publiziert: 19.12.2023 um 01:16 Uhr
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Aktualisiert: 19.12.2023 um 08:08 Uhr
Fast sechs Jahre wohnte der Obdachlose in der Baracke der Gemeinde, nun steht seine frühere Wohnung leer.
Foto: Gina Krückl
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Gina KrücklReporterin

Die Temperaturen stehen um den Gefrierpunkt, als Jörg G.* eiskalt auf die Strasse gestellt wird. Fast sechs Jahre hat der Mann die heruntergekommene Baracke in Nidau BE als Schlafstelle genutzt. Jetzt sollen hier unter anderem Trockenplätze für Boote entstehen. Heisst für den Obdachlosen: Kurz vor Weihnachten verliert er wieder das Dach über dem Kopf.

Der Eiskalt-Entscheid sorgt selbst bei den Gemeinde-Oberen für Stunk. GLP-Gemeinderat Beat Cattaruzza (57) ist wütend. Dass ein Mensch von «seiner» Gemeinde drei Wochen vor Weihnachten auf die Strasse gestellt wird, ist für ihn unverständlich. «Als ich erfahren habe, dass die Räumung ansteht, habe ich ihnen gesagt: ‹Es sind minus zwei Grad. Überlegt euch gut, was ihr machen wollt.›»

Dennoch musste der frühere Obdachlose Jörg G.* seine Wohnung in einer Nidauer Baracke Anfang Dezember verlassen. Für Cattaruzza, Berner Grossrat und Nidauer Gemeinderat mit Ressort Finanzen, ist klar: Bei der Räumung ging es nur um eines: «Sie wollen ihn einfach loswerden.»

Abriss wegen defekter Heizung

Die Gemeinde argumentiert einerseits mit einer defekten Heizung im Gebäude. Diese könne man aufgrund von aktualisierten Kantonsgesetzen nicht ersetzen, schreibt Stadtschreiber Stephan Ochsenbein auf Anfrage. Eine Grundsanierung wäre aufgrund der Kosten «völlig unverhältnismässig». «Als sich Anfang 2022 abzeichnete, dass die Heizung keinen weiteren Winter überleben wird, wurden alle Mieter informiert.»

Rechtlich gesehen war die Räumung vorschriftsgemäss. Doch wieso wurde sie kurz vor Weihnachten vollzogen? Laut Joel Schweizer, Gemeinderat mit Ressort Hochbau, lag das zum einen am kurz bevorstehenden Ablaufdatum der Räumungsbewilligung. «Wir haben die Räumung im November beantragt, bevor es zu kalt wird. Wann sie jedoch bewilligt wird, liegt beim Gericht.»

«Schlimmstenfalls könnte er erfrieren»

Der Hauptgrund ist gemäss Schweizer allerdings, dass die Gemeinde nicht verantworten konnte, G. in der unbeheizten Baracke wohnen zu lassen: «Ohne funktionierende Heizung könnte er dort im Winter schlimmstenfalls erfrieren. Die Räumung war der letzte Weg, um seine Sicherheit zu gewährleisten.»

Stadtschreiber Ochsenbein fügt hinzu: «Wir bedauern im Nachhinein, dass mit der Räumung so lange gewartet wurde. Zumal sich die fehlende Kooperation schon viel früher abgezeichnet hat.» So hätten sowohl die Stadt Nidau als auch die Stadt Biel seit über einem Jahr versucht, eine Anschlusslösung für G. zu finden. «Aber er hat sämtliche Angebote abgelehnt und Gespräche verweigert.»

Cattaruzza und G. kritisieren Kommunikation

Dem widerspricht G.: «Ich habe nie ein Angebot erhalten.» Zudem kritisieren sowohl er als auch Cattaruzza, dass sie zu spät von den Vorgängen erfahren haben. Der eine als Direktbetroffener, der andere als Finanzverantwortlicher der Gemeinde. Von der geplanten Räumung erfuhren beide am selben Tag, als sie zum ersten Mal von der Kündigung und dem geplanten Abriss der Baracke hörten: Als im Juni der Räumungsbescheid an die Tür von G. geklebt wurde.

Obwohl G. seit fast sechs Jahren in der Nidauer Baracke wohnt, ist er nach wie vor in Biel gemeldet. Beim dortigen Sozialdienst hat er auch einen Beistand. Und der erhält all seine Post. Aufgrund persönlicher Differenzen ist der Kontakt zwischen dem Beistand und G. aber offenbar minimal. Deswegen hat Gemeinderat Cattaruzza dem Beistand angeboten, dass er ihn bei G. betreffenden Themen kontaktieren könne. «Aber es kam nie irgendwas.»

Aufsichtsbeschwerde gegen eigene Gemeinde

Für Cattaruzza ist das ein Problem innerhalb der Verwaltung und dem Gemeinderat: «Es braucht transparente Kommunikation und keine fehlende Verantwortung. Vor allem, wenn es um Menschen wie G. geht.» Zwei Jahre nach seinem Amtsantritt ist die Situation für ihn untragbar. Weswegen er eine Aufsichtsbeschwerde eingereicht hat.

Dass er sich damit in der eigenen Gemeinde keine Freunde macht, stört den ehemaligen Eishockey-Profi nicht: «Ich erwarte als Ex-Spitzensportler, dass man sich an die Spielregeln hält.»


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