Bundesgerichtspräsident Ulrich Meyer (67) tritt ab
Der SP-Mann, der Tausende IV-Renten verhinderte

Ulrich Meyer hat stark dazu beigetragen, die Hürden für IV-Renten zu erhöhen. Für viele wurde er dadurch zum Feindbild. Wie beurteilt er selbst sein Wirken? SonntagsBlick hat den langjährigen Staatsdiener kurz vor seinem Karriereende besucht.
Publiziert: 26.12.2020 um 19:35 Uhr
Thomas Schlittler

Das altehrwürdige Gotthardgebäude in Luzern, Sitz der sozialrechtlichen Abteilungen des Schweizerischen Bundesgerichts.

Beim Betreten der riesigen Eingangshalle fühlt man sich klein und unbedeutend. Wegen Corona steht das Gebäude beinahe leer. Es wirkt kalt – und lässt einen spüren, dass es schon ganz andere Kaliber ­empfangen hat.

Ziemlich ähnlich liesse sich der erste Eindruck von Ulrich Meyer (67) schildern.

Der abtretende Bundesgerichtspräsident Ulrich Meyer empfängt SonntagsBlick im Gotthardgebäude in Luzern zum Gespräch.
Foto: STEFAN BOHRER
1/12

Der abtretende Bundesgerichtspräsident begrüsst SonntagsBlick Anfang Dezember zum Gespräch. Grosse Lust darauf scheint er aber nicht zu haben. Nach einer halben Stunde wird er den Journalisten fragen: «Und jetzt, was schreiben Sie? Meyer, der Rentnerschreck?»

Bundesrichter seit 1986

Er wirkt müde, fahrig, angekratzt. Kein Wunder: Der Mann hat die schwierigsten Wochen und ­Monate seiner langen Richter-Laufbahn hinter sich. Seit 1986 amtet Meyer als Bundesrichter, seit 2016 als Präsident der Institution. Doch ausgerechnet vor seiner Pensionierung geschieht das, was Richter um jeden Preis verhindern wollen: Er gerät in die Schlagzeilen.

Was war passiert? 2019 berichteten die CH-Media-Zeitungen über Mobbing und Sexismus am Bundesstrafgericht in Bellinzona. In der Folge leitete eine Kommission des Bundesgerichts eine Untersuchung ein – mit Meyer an der ­Spitze.

Im April dieses Jahrs wurde der Bericht veröffentlicht. Der erhoffte Befreiungsschlag blieb aus. Im ­Gegenteil: Die Geschäftsprüfungskommission des Parlaments kritisierte die Schlussfolgerungen als «nicht nachvollziehbar».

«Magersüchtig» und «quasselig»

Doch damit nicht genug: Die ­Untersuchung führte gar dazu, dass sich Meyer plötzlich selbst mit Sexismus-Vorwürfen konfrontiert sah. Unmittelbar nach der ­Anhörung einer Richterin des Strafgerichts bezeichnete er diese als «magersüchtig», mit «einem giftigen Blick» und «quasselig». Er könne sie «nicht länger als zwei ­Sekunden anschauen».

Meyer machte diese Aussagen zwar im kleinen Kreis. Das Tonband, das die Anhörung aufgezeichnet hatte, lief aber noch und nahm auch die Lästerei auf. Die Aufnahmen wurden der «Rundschau» des Schweizer Fernsehens zugespielt und veröffentlicht. Der Skandal war perfekt.

All dies durfte beim Gespräch in Luzern jedoch kein Thema sein, so die Bedingung der Medienstelle. SonntagsBlick akzeptierte. Es war ohnehin ein anderer Fokus an­gedacht: Meyers Einfluss auf das Sozialversicherungsrecht in den vergangenen zwei Jahrzehnten – insbesondere sein Einfluss auf die IV-Rechtssprechung.

Medizinischer Krankheitsbegriff hinterfragt

«Herr Meyer, wann ist ein Mensch krank?»

Die Einstiegsfrage hilft nicht, die Stimmung zu heben. Doch sie drängt sich auf. Denn es war Bundesrichter Meyer, der kurz nach der Jahrtausendwende damit begann, den medizinischen Krankheitsbegriff zu hinterfragen.

Der Sozialdemokrat kam zum Schluss, dass nicht jeder, der von einem Arzt für krank erklärt worden sei, vom Staat als invalid – also erwerbsunfähig – anerkannt werden könne. Dabei dachte er ins­besondere an Menschen mit chronischen Schmerzen, Angst, Schlafstörungen, Schwindel, Schwäche, Erschöpfung, Antriebslosigkeit, Burn-out.

2009 fragte Meyer in der Ärztezeitung provokativ: «Was ist nun Krankheit im medizinischen Sinne? Die Antwort drängt sich auf: Die Medizin weiss es selbst nicht.»

IV-Neurenten seit 2003 fast halbiert

Im Gotthardgebäude in Luzern vermag Jurist Meyer die Frage auch nicht klar zu beantworten. «Wir führen hier keine begriffswissenschaftliche Diskus­sion», sagt er bestimmt. Und hält fest: «Es gibt viele Krankheitsbilder, die medizinisch sehr schlecht erforscht sind und deswegen Probleme verursachen.»

Mit seiner Kritik am medizinischen Krankheitsbegriff machte sich Meyer viele Feinde. Für zahlreiche Ärzte, Behindertenorganisationen, Psy­chiater und Schadenanwälte ist er ein rotes Tuch. Sie machen den Bundesgerichtspräsidenten dafür verantwortlich, dass sich die Zahl der IV-Neurenten seit 2003 fast halbiert hat und es heute deutlich schwieriger ist, eine IV-Rente zu erhalten als vor 20 Jahren.

Wie lebt der Pfarrerssohn aus dem Emmental mit diesen Vorwürfen?

Meyer versucht, seinen Einfluss kleinzureden: «Eine Rechtsprechung ist nie das Werk einer einzelnen Person, sondern immer Teamwork», sagt er trotzig. Beim Bundesgericht ­seien jeweils mindestens fünf Richter für eine Rechtsprechung verantwortlich.

Verschärfung gerechtfertigt

Was Meyer nicht sagt: Das 2664 Seiten dicke Standardwerk «So­ziale Sicherheit», an dem sich viele Juristen orientieren, hat er herausgegeben, niemand sonst.

Der Sozialversicherungsexperte hält es denn auch nach wie vor für gerechtfertigt, dass das Bundesgericht in Sachen IV-Rechtsprechung die Schraube angezogen hat: «Gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat die Medizin ihren Krankheitsbegriff massiv ausgeweitet.» Das neue Para­digma sei gewesen: Ich bin krank, wenn ich mich krank fühle.

Für Meyer problematisch: «Dieser subjektive Krankheitsbegriff ist keine taugliche Grundlage für die Gewährung von Sozialversicherungsleistungen.» Beleg dafür sei die Tatsache, dass zeitweise fast 30'000 IV-Renten pro Jahr gesprochen worden seien.

«Das Bundesgericht als Hüter des Gesetzes musste einschreiten. Sonst wäre die Invalidenversicherung zu einem allgemeinen existenzsichernden Mindesteinkommen mutiert – und dagegen hat sich das Volk bereits mehrfach ausgesprochen.»

Maske ab, die dicke Luft bleibt

Meyer blickt immer wieder auf ­seine gelben Notizzettel, auf ­denen er seine Kernaussagen notiert hat. Der Journalist fragt und fragt – und hofft vergeblich, doch noch eine Gefühlsregung aus dem Gesprächspartner herauszubekommen:

«Ist es Aufgabe des Bundes­gerichts, die IV zu sanieren?»

«Hätte nicht die Politik den Krankheitsbegriff enger definieren müssen, um Gegensteuer zu geben?»

«Wäre es heute einfacher, eine IV-Rente zu erhalten, wenn es Bundesrichter Meyer nicht gegeben hätte?»

Bereits nach wenigen Minuten dreht sich das Gespräch im Kreis, die Antworten wieder­holen sich. Meyer öffnet das Fenster, nimmt für einen Moment die Maske ab. Die dicke Luft bleibt.

«Meyer, der Rentnerschreck?»

Erst als das offizielle Gespräch vorbei und das Aufnahmegerät abgeschaltet ist, taut Meyer etwas auf. Als er fürs Foto posiert, kommt schliesslich die eingangs erwähnte Frage: «Und jetzt, was schreiben Sie? Meyer, der Rentnerschreck?»

Ein Jubelporträt werde es ­sicher nicht, so die Antwort.

Daraufhin entsteht auf einmal doch noch ein echter Gedankenaustausch.

Einigkeit besteht zum Beispiel darin, dass es im Einzelfall unglaublich schwierig ist, zu entscheiden, wer tatsächlich Anspruch hat auf eine IV-Rente – und wer vielleicht eben doch nur simuliere.

Zwar bestreitet Meyer, dass das heutige IV-System ge­nerell krank sei. Zur weitverbreiteten Meinung, dass die Einschätzung von behandelnden Ärzten nichts mehr zähle, sondern nur noch diejenige von Gutachtern, die von den Versicherern bezahlt werden, meint er jedoch: «Ich habe vor Jahren einmal den Vorschlag ­gemacht, eine gesamtschwei­zerische Abklärungsinstitution zu gründen, die von den Versicherungen unabhängig wäre und aus dem allgemeinen Bundeshaushalt finanziert würde.» Der Gesetzgeber habe das bisher aber nicht gewollt.

Wichtiger Pfeiler des Sozialstaats gesichert

Auf einmal zeigt sich: Aus Stahl ist dieser Mann doch nicht. Und auch die Werte seiner Partei, der SP, die sich traditionell für einen starken Sozialstaat einsetzt, scheinen ihm nicht egal zu sein: «Es ging nie darum, den Sozialstaat abzubauen, ganz im Gegenteil!»

Meyer ist überzeugt: Indem das Bundesgericht verhindert habe, dass die IV finanziell aus dem Ruder laufe, habe es dazu beigetragen, einen wichtigen Pfeiler des Sozialstaats langfristig zu sichern.

Erste Frau an der Spitze des Bundesgerichts

Martha Niquille (66, CVP) präsidiert ab 2021 das Schweizerische Bundesgericht. Die St. Gallerin wurde von der Vereinigten Bundesversammlung am 16. Dezember ins pres­ti­ge­träch­tige Amt gewählt. Es ist eine historische Wahl: Seit der Gründung 1948 stand noch nie eine Frau an der Spitze des Bundes­gerichts.

Martha Niquille (66, CVP) präsidiert ab 2021 das Schweizerische Bundesgericht. Die St. Gallerin wurde von der Vereinigten Bundesversammlung am 16. Dezember ins pres­ti­ge­träch­tige Amt gewählt. Es ist eine historische Wahl: Seit der Gründung 1948 stand noch nie eine Frau an der Spitze des Bundes­gerichts.

Mehr
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?