Chefarzt Urs Karrer über die prekäre Lage im Spital
«Es ist ein Kampf um jedes Bett»

Jeder Vierte, der wegen Corona ins Spital muss, landet auf der Intensivstation. Für jene, die sich nicht impfen lassen, hat Chefarzt Urs Karrer kein Verständnis.
Publiziert: 29.08.2021 um 00:05 Uhr
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Aktualisiert: 29.08.2021 um 18:11 Uhr
Interview: Camilla Alabor

Herr Karrer, in den letzten Tagen gab es viele Berichte über die prekäre Lage auf den Intensivstationen. Wie ist die Lage im Kantonsspital Winterthur?
Urs Karrer: Von zwölf Intensivbetten sind sechs mit Covid-Patienten belegt. Das Problem auf der Intensivstation sind aber weniger die Betten – von denen hätten wir noch einige – als vielmehr die Personalausfälle. Und generell eine ausgedünnte Personaldecke. Hinzu kommt, dass wegen der Delta-Variante ein höherer Prozentsatz der Patienten mit Covid-19 eine Behandlung auf der Intensivstation benötigt.

Was heisst das konkret?
In der zweiten Welle mussten 17 Prozent aller Spitalpatienten auf der Intensivstation behandelt werden. Nun, am Anfang der vierten Welle, sind es zwischen 25 und 30 Prozent. Das ist ein gewaltiger Unterschied.

Jeder Vierte, der mit Covid-19 ins Spital kommt, landet also auf der Intensivstation?
Mindestens.

Urs Karrer, Infektiologe und Chefarzt am Kantonsspital Winterthur, muss erneut mit ansehen, wie sich die Intensivbetten füllen.
Foto: Landbote
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Was hat sich denn im Vergleich zum Herbst 2020 verändert?
Damals waren viele ältere Patienten mit Vorerkrankungen im Spital. Hätten wir sie auf die Intensivstation verlegen müssen, hätten sie praktisch keine Überlebenschancen gehabt. Derzeit ist die Situation eine ganz andere: Das Durchschnittsalter der Covid-Patienten liegt bei etwa 54 Jahren. Da versucht man mit allen intensivmedizinischen Mitteln, die Patienten durchzubringen.

Die Älteren müssen nicht mehr ins Spital, weil sie mehrheitlich geimpft sind?
Genau. Geimpfte sind vor einer schweren Erkrankung ausserordentlich gut geschützt. Der zweite Faktor, der sich im Vergleich zur zweiten Welle verändert hat, ist die Delta-Variante: Sie macht auch Jüngere deutlich kränker.

Nun gibt es Menschen, die sagen: Wenn erst die Hälfte der Betten mit Covid-Patienten belegt ist, ist die Situation wohl doch relativ entspannt.
Sie müssen verstehen: Diese Plätze wären ohne Covid ja nicht leer. Aber jetzt stehen sie den anderen Patienten nicht mehr zur Verfügung. Schon jetzt ist es ein Kampf um jedes Bett. Kommt hinzu, dass Covid-Patienten nicht – wie zum Beispiel frisch Operierte – zwei bis drei Tage auf der Intensivstation liegen, sondern im Schnitt 15 Tage.

90 Prozent der Patienten, die jetzt ins Spital müssen, sind nicht geimpft. Bei Ärzten und Pflegenden führt dies zu grossem Unmut. Wie wirkt es sich auf die Behandlung der Covid-Patienten aus?
Wir haben im Spital ständig mit Leuten zu tun, die durch ihr Verhalten oder ihren Lebensstil eine schwere Erkrankung in Kauf genommen haben: Raucher, Übergewichtige, risikofreudige Sportler oder Autofahrer. Das ist für uns also nichts Ungewöhnliches.

Trotzdem: Wie geht das Spitalpersonal mit dem Ärger und dem Frust um, die ja vorhanden sind?
Natürlich kommt es vor, dass man im Pausenraum mal Luft ablässt. Sobald man aber den Patienten vor sich hat, geht es darum, diesen professionell zu versorgen. Das ist unsere Aufgabe, dafür sind wir geschult. Viel schwerer zu akzeptieren finde ich die Tatsache, dass wir uns immer noch in dieser schwierigen Situation befinden.

Wie meinen Sie das?
Die Schweiz ist unglaublich privilegiert. Wir haben die besten Impfstoffe und wir haben genug davon, um die gesamte Bevölkerung zu schützen. Wären genügend Personen geimpft, gäbe es die hohe Belastung der Spitäler nicht. Doch statt mit aller Kraft aufs Impfen zu setzen, streiten wir lieber über Nebenschauplätze wie Covid-Zertifikate. Und wenn ich noch etwas anfügen darf ...

Aber gern.
Jeder Schweizer, der sich freiwillig gegen die Impfung entscheidet, trägt eine Mitverantwortung, dass sich die Pandemie für alle verlängert und dass das Spitalpersonal erneut überlastet wird. Es gibt aktuell keine andere Krankheit, bei der die Wahrscheinlichkeit, im Spital zu landen, auch nur annähernd so gross ist wie bei Covid.

Können Sie das in Zahlen ausdrücken?
Am Anfang der Pandemie musste zum Beispiel bei den 45-Jährigen nur etwa einer von 150 Infizierten im Spital behandelt werden. Mit Delta ist es einer von 50. Diese Zahlen beziehen sich wohlgemerkt auf Ungeimpfte.

Das klingt nach viel.
Ist es auch. Sehen Sie: Die Delta-Variante des Coronavirus ist so ansteckend wie Windpocken, auch bekannt als Wilde Blattern. Die Krankheit heisst Windpocken, weil sie sich in Windeseile über die Luft (den Wind) überträgt. Eine Krankheit, die 99 Prozent der 40-Jährigen Schweizer durchgemacht haben. Bis nächsten Frühling wird so gut wie jede und jeder mit dem Coronavirus in Kontakt kommen.

Das bedeutet für den Herbst nichts Gutes.
Alle Erwachsenen, die nicht geimpft sind, gehen ein absolut unnötiges Risiko ein, in den nächsten acht Monaten schwer krank zu werden. Dabei sind wir schon jetzt am Punkt, wo die Behandlung der Covid-Patienten Auswirkungen auf alle anderen Patienten hat.

Persönlich

Urs Karrer (55) ist Vizepräsident der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes und Chefarzt Infektiologie am Kantonsspital Winterthur. Er lebt im Kanton Zürich.

Urs Karrer (55) ist Vizepräsident der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes und Chefarzt Infektiologie am Kantonsspital Winterthur. Er lebt im Kanton Zürich.

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Inwiefern?
Derzeit müssen zum Beispiel Herzspezialisten oder Onkologinnen auf der Covid-Station aushelfen. Das bedeutet, dass sie weniger Sprechstunden durchführen können, um Patienten mit Krebs oder Herzleiden zu betreuen. Und es ist noch nicht einmal Oktober, wo sich die Leute vermehrt drinnen aufhalten und das Virus intensiver zirkulieren wird.

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