Ein Hauch von Dolce Vita im Tessin – Jugendkrawalle in St. Gallen
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Die Geduld geht zu Ende:Ein Hauch Dolce Vita im Tessin – Krawalle in St. Gallen

Die Geduld der Bevölkerung geht zu Ende
Ein Hauch von Dolce Vita im Tessin – Jugendkrawalle in St. Gallen

Im Tessin tanken Touristen unter strenger Aufsicht Sonne, in St. Gallen randalieren Jugendliche. Die Coronamüdigkeit vereint sie. Erlösung bringt erst die Impfung – doch droht eine Zweiklassengesellschaft.
Publiziert: 03.04.2021 um 21:56 Uhr
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Aktualisiert: 08.04.2021 um 09:42 Uhr
Sven Zaugg und Tobias Marti

Wenn Touristen in Ascona TI mit Masken flanieren und der Barista Gästen in Locarno TI den Weg zur öffentlichen Toilette weist, dann feiert die Schweiz Ostern – im Zeichen von Corona.

Wenn Hunderte Jugendliche zum Feiern in der St. Galler Innenstadt zusammenkommen und sich einige von ihnen später mit der Polizei prügeln, auch dann feiert die Schweiz Ostern – im Zeichen von Corona.

Die Bilder zeigen, wie das Virus unser öffentliches Leben auch in den kommenden Monaten prägen wird. Ein Leben zwischen Verboten, Privilegien und Frust: Die coronamüde Jugend, die aus Wut und Langeweile mit den Ordnungshütern Strassenschlacht spielt, weil sie sich nicht mehr einsperren lassen will. Die Deutschschweizer, die im sonnigen Tessin trotz aller Einschränkungen einen Hauch von Dolce Vita geniessen möchten.

Wenn Touristen in Ascona mit Masken flanieren und der Barista Gästen in Locarno den Weg zur öffentlichen Toilette weist: dann feiert die Schweiz Ostern – im Zeichen von Corona.
Foto: Siggi Bucher
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Die grosse Ungewissheit

Zwischen diesen Bildern liegt eine grosse Ungewissheit, wie es weitergehen soll. Die Lage wird sich erst entspannen, wenn die Impfkampagne Fahrt aufnimmt. «Mittelfristig sind Erleichterungen für geimpfte Personen, aber auch für Personen mit negativem Testergebnis denkbar. Entsprechende Überlegungen sind im Gange», schreibt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf Anfrage.

Die Rückkehr zum gewohnten Leben ist das noch nicht. Wenn überhaupt, steht die erst an, wenn 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung geimpft sind. So hoch ist die Bereitschaft zur Immunisierung gemäss einer Befragung des Bundesrats. Für diese 5,25 Millionen Impfwilligen braucht es 10,5 Millionen Dosen.

1,5 Millionen wurden bisher verabreicht, etwa neun Millionen müssen es bis Juli sein, damit Bersets Impfplan aufgeht. Wenn an sieben Tagen in der Woche geimpft würde, müssten also täglich 73 770 Dosen injiziert werden.

Aber: Steht überhaupt so viel Stoff zur Verfügung? Können die Kantone eine solche Menge in vier Monaten verimpfen? Zumindest im zweiten Punkt gibt es Hoffnung. Eine SonntagsBlick-Umfrage in allen 26 Kantonen zeigt: 122'224 Dosen schaffen sie am Tag.

Zweiklassengesellschaft?

Und wenn all das wirklich klappt, dann droht der Schweiz ab Sommer die Spaltung in eine Zweiklassengesellschaft, wie am Osterwochenende im Tessin zu beobachten ist.

Während Touristen, die in den schmucken Herbergen Asconas logieren, sich dort verköstigen lassen durften, gab es für Ticinesi lediglich Pizza und Prosecco über die Gasse.

«Ein schräges Gefühl», findet Marc Speich, der mit seiner Freundin ein paar Tage im Tessin verbringt. Die Deutschschweizer sitzen auf der Hotelterrasse, schlürfen Drinks. Ein paar Meter weiter hocken junge Tessinerinnen und Tessiner am Boden und stossen mit Pappbechern an. Für sie ist die Terrasse tabu.

Kommt eine solche Aufteilung der Gesellschaft nun auf die ganze Schweiz zu? Die Trennung in Geimpfte und Ungeimpfte? Durchaus denkbar, wenn die Immunisierung weiterhin nur in schleppendem Tempo verläuft.

Eigentlich ist die Rechtslage klar: «Restaurants, Klubbetreiber oder Kosmetiksalons können entscheiden, ob sie Personen den Zutritt verweigern, die keine Impfung vorweisen», sagt Rechtsprofessor und Ethiker Bernhard Rütsche. Juristen nennen so etwas Privatautonomie.

Strafe für Ungeimpfte?

Gut möglich also, dass Impfunwillige und jene, die noch auf die Spritze warten, in den kommenden Monaten mit Einschränkungen rechnen müssen.

«Der Staat hingegen darf eine Zugangskontrolle höchstens für Dienstleistungen verlangen, die nicht zum täglichen Bedarf gehören und mit einer grossen Ansteckungsgefahr verbunden sind», sagt Rütsche.

«Wichtig ist, dass der Bund nun schnell einen Immunitätsausweis ausgebe, der international anerkannt ist», ergänzt er. Dies habe nichts mit Privilegien zu tun, sondern mit der Wiederherstellung der Freiheitsrechte.

Vorbild Israel

In Israel mit derzeit 55 Prozent vollständig Geimpften lässt sich beobachten, wie eine solche Zukunft aussieht: «Grossanlässe wie Konzerte, Hochzeiten oder Sportevents dürfen gegen Vorweisung des Impfausweises oder eines negativen Corona-Tests besucht werden», beobachtete die Schweizer Journalistin Joëlle Weil, die seit Jahren in Tel Aviv lebt.

Laut Weil dürfen in Restaurants und Cafés auch Ungeimpfte Platz nehmen: «In meinem Lieblingscafé in Tel Aviv müssen die Tische zwei Meter auseinanderstehen.» Sie selbst besuchte bereits wieder eine Hochzeit mit 250 Gästen: «5,3 Millionen Israelis haben nun diesen grünen Pass, den sie ausgedruckt oder auf dem Mobiltelefon mit sich tragen.»

Bis zum Sommer soll laut BAG-Chefin Anne Lévy ein international anerkanntes Impfzertifikat für die Schweiz zur Verfügung stehen. Dieses Zertifikat soll zwar die Impfung bestätigen, nicht aber Tests oder eine Ansteckung mit dem Coronavirus. Allerdings sind in diesem Zusammenhang haarsträubende Sicherheitsmängel bekannt geworden, die das Unterfangen noch verzögern könnten.

«Das wäre das Ende unserer Freiheit und Grundrechte.»

Eventveranstalter fordern inzwischen, dass nicht nur Geimpfte Zugang zu grösseren Veranstaltungen erhalten, sondern auch Genesene und negativ Getestete, wie Stefan Breitenmoser vom Branchenverband SMPA sagt: «Vor Ort testen kommt aus praktischen Gründen nur für ganz wenige Einzelfälle infrage.»

Der oberste Gastwirt des Landes, Casimir Platzer, findet den Impfpass dagegen nicht entscheidend: «Eine Impfpflicht einzuführen, um einen Kaffee oder eine Stange trinken zu dürfen, ist inakzeptabel. So weit darf es nie kommen. Das wäre das Ende unserer Freiheit und Grundrechte.»

Der Epidemiologe Marcel Tanner teilt diese Meinung: «Impfzertifikate dürfen nicht zu Diskriminierungen in der Gesellschaft führen. Es darf keine Impfpflicht geben.» Wenn sich Menschen nicht impfen lassen wollten, müsse man das respektieren.

Für viele ist es ohnehin einerlei, ob nun gross getestet wird, die Impfkampagne zügig vorwärtsgeht oder das Impfzertifikat bis zum Sommer parat ist. Denn nicht wenige haben das Jahr 2021 für sich abgeschrieben. Wunder erwartet niemand mehr.

Auch Nevio Fischer aus Möriken AG nicht, der sich gerade bei der Osteria Nostrana eine Pizza zum Mitnehmen bestellt hat. «Ich glaube nicht mehr daran, dass die Normalität noch in diesem Jahr zurückkommt.» Irgendwann, so Fischer, machen die Leute einfach nicht mehr mit.

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