Die grosse Macht der Staatsanwälte
Inhaftiert – ohne zu wissen, warum

In der Schweiz werden immer weniger Urteile gefällt. Hochkonjunktur hat hingegen der Strafbefehl. Doch dieser bringt grössere Probleme mit sich, wie ein Fall zeigt.
Publiziert: 11.08.2024 um 09:08 Uhr
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Aktualisiert: 13.08.2024 um 10:45 Uhr
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Lisa AeschlimannReporterin & Blattmacherin

In der Schweiz werden immer weniger Gerichtsurteile gefällt. Waren es im Jahr 2015 noch 9051 Urteile, wurden 2023 gerade noch 7946 Urteile gefällt – und damit so wenige wie noch nie. Und das, obwohl die Bevölkerung in dieser Zeit um 8,2 Prozent gewachsen ist.

Immer beliebter wird hingegen der Strafbefehl: 2023 wurden knapp 95'000 Fälle per Strafbefehl erledigt – das sind 260 pro Tag.

Seit 2011 können Staatsanwälte in Eigenregie Freiheitsstrafen von bis zu sechs Monaten und Geldstrafen von bis zu 180 Tagessätzen verhängen. Dies, um die Gerichte zu entlasten. In Wahrheit hat man damit praktisch die ganze Strafjustiz an die Staatsanwälte ausgelagert – die Verfahrensart macht heute über 92 Prozent aller Strafurteile aus, in gewissen Kantonen gar 95 Prozent.

Strafbefehle erfolgen häufig bei groben Verkehrsverletzungen – aber längst nicht nur.
Foto: Keystone
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Strafbefehle kommen nicht nur bei Verkehrsdelikten oder Diebstahl, sondern auch bei Betrug, häuslicher Gewalt bis hin zu fahrlässiger Tötung zum Zug. Staatsanwältinnen leiten die Ermittlungen, bestimmen die Strafe. Dafür müssen sie nicht einmal die beschuldigte Person einvernehmen. Ohne Einsprache wird der Strafbefehl nach zehn Tagen rechtskräftig.

Marc Thommen, Strafrechtsprofessor an der Universität Zürich, der eine gross angelegte Studie zum Strafbefehlsverfahren durchgeführt hat, sagt: «Staatsanwälte sind extrem mächtig in der Schweiz.» Drei Viertel aller Beschuldigten, die ins Gefängnis müssen, wurden beispielsweise per Strafbefehl verurteilt – sahen also nie eine Richterin. «International ernte ich für diese Zahl jeweils nur Unverständnis und Kopfschütteln.»

Justiz ist überlastet

Eine Trendwende ist nicht in Sicht, denn die Justiz ist weiterhin überlastet. Die Zahl der offenen Kriminalfälle steigt Jahr für Jahr, wie Tamedia schrieb. 2022 gab es 113'064 offene Fälle. Es fehlt an Ressourcen.

Strafbefehle schaffen am schnellsten Abhilfe: Sie sind rasch (die Hälfte ist nach drei Monaten erledigt), billig und diskret: Es gibt keine öffentliche Verhandlung, das Urteil kommt per Post.

Doch: «Der Preis für die schlanke Erledigung ist hoch», sagt Experte Thommen. In neun von zehn Fällen gab es vor Erlass des Strafbefehls keine Einvernahme durch die Staatsanwaltschaft, und die Beschuldigten wurden nicht verteidigt – obwohl ihnen das Gesetz eine unentgeltliche Verteidigung erlauben würde.

Bei einem Delikt wie grober Verkehrsregelverletzung, wo die Beweislage klar sei, brauche es vielleicht keine Einvernahme, sagt Thommen, aber bei Vieraugendelikten wie häuslicher Gewalt sei das sehr viel komplizierter.

Auf Busfahrt angehalten und verhaftet

Über ein besonders krasses Beispiel berichtete «Surprise»: Ein Italiener wird im Februar 2021 auf einer Busfahrt an der Schweizer Grenze angehalten und in ein Basler Gefängnis eingewiesen. Er bleibt fast drei Monate. Den Grund dafür erfährt er erst viel später: 2018 war gegen ihn ein Strafbefehl ausgestellt worden wegen Verstoss gegen das Ausländergesetz und eines Drogendelikts. Er wurde damit auch des Landes verwiesen.

Besagten Strafbefehl hat der Italiener nie gesehen, da er an eine alte Adresse in Italien geschickt und vom Onkel entgegengenommen wurde, zu dem er keinen Kontakt mehr hatte. Erst mithilfe einer Anwältin konnte er sich Gehör verschaffen. Ein Gericht erklärte ihn später für unschuldig – und sprach ihm eine Entschädigung von 21’000 Franken zu.

Im Zweifel lieber verurteilen als freisprechen

Nur jeder fünfte Strafbefehl wird übersetzt, immer wieder werden sie fiktiv zugestellt – ob der Beschuldigte das Urteil gesehen hat, geschweige denn verstanden hat, bleibt unklar. «Damit ist der Lerneffekt – ein wichtiger Pfeiler im Strafrecht – inexistent», sagt Thommen.

Verschärfend kommt hinzu: Die Hürde für eine Verurteilung ist tiefer als für einen Freispruch. Ein Strafbefehl muss nicht begründet werden, eine Einstellung hingegen schon – meist muss sie auch noch vom Chef genehmigt werden. Ein Fehlanreiz, sagt Thommen: «Stellen Sie sich vor: Mit wem möchten Sie lieber streiten, mit ihrer Vorgesetzten oder einem Beschuldigten?»

Strafverteidiger aus der Praxis kritisieren immer wieder, dass Staatsanwältinnen gewisse Strafbefehle als «Versuchsballone» verschicken – auf Vorrat sozusagen. Berechtigt, wie Zahlen zeigen: Bei jeder zehnten Einsprache verfügte der Staatsanwalt eine Einstellung – die Strafe entfiel.

Der Beobachter verleiht jeweils den «Fehlbefehl des Jahres».

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