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Die Schweiz hat die dramatischste Woche seit 1945 hinter sich
Ein infiziertes Land

Die Schweiz hat die dramatischste Woche seit 1945 hinter sich. So ziemlich alles wird auf den Kopf gestellt.
Publiziert: 21.03.2020 um 23:41 Uhr
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Aktualisiert: 22.03.2020 um 15:26 Uhr
Reza Rafi

Es gab eine Schweiz vor Corona. Und es wird eine Schweiz nach Corona geben. Als Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga am Montag die «Ausserordentliche Lage» ausgerufen hat, besiegelte sie den spektakulärsten Bruch in der Nachkriegsgeschichte. Der Bundesrat kann nun ohne Zustimmung des Parlaments regieren.

Seither ist nichts mehr normal in diesem Land, das die letzten 75 Jahre doch immer so stabil, so reich und so sicher war. Zäsuren gab es zwar immer wieder, die Ölkrise 1973 zum Beispiel, der Schweizerhalle-Brand 1986 oder das Swissair-Grounding 2001. Aber das sind Randnotizen im Vergleich. Das ganze Land befindet sich gerade auf einem Teufelsritt durch Raum und Zeit. Opferzahl: steigend. Schaden: bislang 30 Milliarden. Ende: offen.

In solchen Zeiten wird Altbewährtes wichtig. Radio SRF 1 spielt derzeit besonders oft einheimische Musik, von Stefanie Heinzmann bis Peter Reber. Und Diana Ross und Abba. Gewohnheit als Lebenselixier. Der Geist von Radio Beromünster weht durch die Küchen und Stuben. Moderator Mike La Marr führt das Publikum mit seiner Bassstimme durch die Kaskade von schlechten Nachrichten. «Zum Corona-Virus gits na e Mitteilig vom Bundesrat», sagt er ruhig, wenn er die vier prägenden Worte dieser Woche ankündigt: «Bitte bleiben Sie zuhause.» So lautet die monoton gesprochene Botschaft der Regierung, die immer und immer wieder abgespult wird. Und an einen düsteren Zukunftsfilm erinnert.

Flaute: Das Land steht still.
Foto: Igor Kravarik
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Reicht das Geld vom Bund?

Aber die Probleme sind real. Die Reinigungsfachfrau weiss nicht, wie sie ihre anstehende Miete zahlt. Der Coiffeur-Unternehmer muss seinen beiden Kindern sagen, dass es dieses Jahr wohl keine Badeferien und kein neues Velo geben wird. Der Koch ist ratlos, woher er das Geld für die Steuerrechnung nehmen soll. Am Freitag dann ein Funken Hoffnung: Finanzminister Ueli Maurer hat Soforthilfe angekündigt. Innert 30 Minuten soll jeder gebeutelte Betrieb bei der Bank Cash auf die Hand kriegen. Bis zu 500'000 Franken, gebürgt vom Staat. Reicht das? Kann man dem trauen? Können die Reinigungsfachfrau, der Coiffeur und der Koch wieder gut schlafen?

Vom Süden droht der Tod. Fotos vom Donnerstag, wie Armee-Konvois in Norditalien die Leichen abtransportieren – wird es solche Bilder nächste Woche im Tessin geben? Und übernächste Woche in Bern, Basel und Zürich?

Niemand lacht mehr über SVP-Nationalrätin Martullo-Blocher mit ihrer Gesichtsmaske. Dafür erinnern die Gegner süffisant daran, dass die SVP 2013 das Epidemiengesetz verhindern wollte, heute das wichtigste Instrument des Bundesrats.

Draussen surreale Bilder: Leblose Leere bei schönstem Frühlingswetter. Das sonst pulsierende Zürich hält die Luft an. Eine Mischung aus Angst, Komik und Spannung hängt über der Schweiz. Drôle de Guerre ist die Phase zwischen Kriegserklärung und erstem Schuss. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat Covid19 den Krieg erklärt. Und die Frage lautet: Wann schlägt das Virus voll zu?

Solidarität breitet sich aus

Die Not weckt auch neue Energien: Auf einmal schwärmen tiefbürgerliche Zeitgenossen von der Solidarität, die gelebt wird. Eigentlich ist das ein Kernbegriff der Linken, den man am 1. Mai hört. Plötzlich wird das Grosi von der Nachbarin, mit der sie zuvor nie ein Wort gewechselt hatte, gefragt, ob sie etwas vom Grossverteiler brauche. Zivildienstleistende melden sich zum Helfen. Mütter und Väter organisieren einen Hütedienst. Der Dreissigjährige, der seine Eltern sonst nur an Pflichtanlässen trifft, meldet sich täglich bei seinen Eltern. Man steht zusammen auf die Balkone und beklatscht das medizinische Personal.

Die Leute beginnen zu merken, was die Lehrerinnen und Lehrer täglich leisten, die Betreuer, Pflegerinnen und Hilfskräfte im Land. Ein kollektives Dankeschön hallt durch den Siedlungsbrei. Wir erfahren auch, wie es ist, wenn niemand mehr kommt, um die Spargeln aus dem Boden zu ziehen. Und manch einer fragt sich: Was läuft da schief, wenn die systemrelevanten Berufe gerade die mit den tiefsten Löhnen sind?

Das schweizerische Selbstverständnis wird auf den Kopf gestellt: Plötzlich sind wir der Problemfall. Nicht ein Erdbebengebiet in der Dritten Welt oder ein Konfliktherd in Nahost. Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz twitterte: «Es wird Kontrollen an der Schweizer Grenze geben.» Die Botschaft des Regierungschefs an sein Volk: Ich schütze Euch vor der infizierten Schweiz. Die Zeit, in der hier Österreicher-Witze erzählt wurden, ist längst vorbei. Dann lässt der deutsche Innenminister die Grenze zur Schweiz schliessen. Kein Wunder: Wir gehören punkto Ansteckungsrate, punkto Fälle pro Einwohnerzahl und punkto statistische Kontrolle zum traurigen Spitzenfeld.

Bundesrat bleibt souverän

Das rüttelt noch an einer Grundfeste: Können wir unserer Bundesverwaltung trauen? Und unserer Landesregierung? Alle sieben treten besonnen, souverän auf. Statt Blut-Schweiss-und-Tränen-Reden arbeitsame Nüchternheit. Vor allem der von politischen Misserfolgen gebeutelte Gesundheitsminister Alain Berset trumpft dieser Tage zum trittsicheren Krisenmanager auf.

Doch plötzlich kommen Zweifel auf. Am Verzicht auf systematische Tests. An den viel zu wenigen Intensivplätzen. An der zu späten Reaktion. Der Corona-Bekämpfer Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit räumt am Donnerstag ein, dass seiner Behörde der Überblick über das Ausmass der Pandemie entglitten ist.

Es schlägt die Stunde der Systemkritiker. Zornig über die «aufgezwungene Rezession», verbreiten Leute Spots, die die Massnahmen gegen die «etwas stärkere Grippe» mit teils konspirativem Beiklang zerzausen. Die Wortführer heissen Rüdiger Dahlke, Andreas Bircher oder Richard David Precht. «Wirtschaftlicher Selbstmord aus Angst vor dem Tod» schimpft Roger Köppel auf Twitter. Kurz danach bringt Christoph Mörgeli dasselbe Sprachbild. Was wohl ihre Parteikameradin, die Zürcher SVP-Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli, davon hält?

Währenddessen ist es auf den Schweizer Strassen ruhig. Gespenstisch ruhig. Radiomann Mike La Marr bringt es fertig, auch diese Situation in harmlos-helvetische Dimensionen zu bringen: «Puh, i letschter Ziit hämmer so wenig Verkehrsmäldige gha, ich bin fascht e chli us de Üebig», kündigt er eine Verkehrsdurchsage an.

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